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La Gacilly-Baden Photo 2023

Orient! Eine fotografische Reise

„Ein gutes Foto ist ein Foto, auf das man länger als eine Sekunde schaut“, sagte Henri Cartier-Bresson. Wenn ein Fahrradfahrer eine Vollbremsung macht, um minutenlang eine Aufnahme anzustarren, darf sie demzufolge als bestmöglich gelten. Den Blickfang schuf Maryam Firuzi, die - neben anderen Künstlerinnen und Künstlern - beim Festival "La Gacilly-Baden Photo" ausstellte. Die FOTO HITS-Redaktion nahm noch weitere Eindrücke mit, die bezeugen, was ein bleibendes Meisterwerk ausmacht.

Das diesjährige Festival trägt den dem Titel "Orient!", wobei Orient häufig ein okzidentales Missverständnis meint. Grundsätzlich haben die Golfstaaten mit Afghanistan so wenig gemein wie mit Griechenland. Daher ist die Erläuterung aufschlussreich: "Rebellische und tief verwurzelte Hoffnungsbilder aus dem Orient! Eine fotografische Reise zwischen Licht und Schatten.“ 

(c) Maryam Firuzi
Maryam Firuzi hatte nie vor, Fotografin zu werden. Die iranische Regisseurin, die ein Studium der persischen Kalligrafie sowie der Filmwissenschaft abgeschloss, entdeckte die Sprache der ruhenden Bilder erst im Laufe ihres Studiums für sich. Die Inszenierung ist Teil der Serie "Reading for Tehran Streets", die die Kraft weiblicher Poesie auf die Straßen der Stadt bringt.

Rebellion, Hoffnung, Licht und Schatten - das allein verheißt bewegende Momente. Doch bleibt es in Baden nicht bei der einen Minute, in denen normalerweise Motive ihre Wirkung entfalten. Aus ihr entstehen Geschichte und Geschichten, was einen einfachen Grund hat: Die Aufnahmen werden so außergewöhnlich präsentiert, dass die Reaktionen ebenso ausfallen.

Rund 1.500 Bilder erkunden Besucherinnen und Besucher auf dem Parcours durch die Stadt. Jede Station führt sie tiefer in die Wunder und Abgründe der Welt. Die kluge Ortswahl hilft dabei auf die Sprünge: So verblüffen in einer baumbestandenen Passage lebendige Hängebrücken, die man als Panoramafoto abwandert. Indigene Völker in Nordindien lassen sie aus Gummibäumen wachsen, die nach jahrzehntelanger Kultivierung sogar dem Monsun und Erdbeben trotzen. 

(c) Brigitte Kössner-Skoff und Gerhard Skoff
Die Region der Khasi Hills zählt mit zu den regenreichsten Gebieten der Erde. Um reißende Flüsse zu überqueren, schufen die indigenen Bergvölker lebende Brücken. Brigitte Kössner-Skoff und Gerhard Skoff suchten und fanden Motive, die natürliche Harmonie und Vollkommenheit ausstrahlen.

Danach trifft man auf einem offenen Platz mutige Frauen, die eigentlich aus der Öffentlichkeit verbannt sind. Hier zeigen sie sich auf großformatigen Drucken frei, schön und stolz. Die Fotografin Fatimah Hosseini porträtierte etwa eine Musikerin, die auf einer Straße Kabuls nun Badener Passanten fixiert - unverschleiert und mit Elektrogitarre. "Wahnsinnig schön, schau mal", ruft eine Frau ihrer Freundin zu. Diese Spontaneität wünscht sich jeder Galerist, doch nur beim Flanieren trauen sich Menschen jeder Schicht und Herkunft, sie herauszulassen. "Solche Reaktionen rühren mich. Auch dafür machen wir die Ausstellung" bekräftigte der Festivaldirektor Louis Lammerhuber dem FOTO HITS-Redakteur. 

Foto: Dirk Hartmann
Der französische Fotograf Paul Almasy hatte das Glück, Afghanistan zu besuchen, als es in den 1960er-Jahren davon träumte, das feudale System zu überwinden. Gegenübergestellt sieht man die Realität des heutigen Landes.

Die Traumbilder Firuzis wiederum findet man an einem Pfad und in einem schattigen Winkel. Ihre Inszenierungen setzen dem iranischen Alltagsgrau die Kraft der Poesie entgegen: Schneetreiben, ein verlassener Vergnügungspark - und trotzdem amüsiert sich eine Frau in fröhlichem Orange. Wir geben niemals unsere Träume auf, scheint sie den Vorbeigehenden zuzurufen. 

Kaum jemand bleibt von den Motiven unberührt. Eines der nächsten Großformate zeigt ein überglückliches afghanisches Kind. Dank einer Beinprothese kann es wie früher umherspringen und aus seinem Gesicht strahlt alles Glück dieser Erde. Nachdenklich blickt eine kleine Österreicherin zurück. 

Alisa Martynova. Foto: Dirk Hartmann
Alisa Martynova porträtierte Migranten, die nach lebensgefährlichen Überfahrt nach Italien kamen. Das intensive Blau und Orange steht für Dunkelheit, Kälte, aber auch Hoffnung.
Alisa Martynova. Foto: Dirk Hartmann
Der Pressetext sagt zu den Porträtierten: Nach der langen Passage über das Meer werden sie zu Sternen, die in der Nacht vergehen und ein Sternbild formen.

Amüsiert hörte der Redakteur im Weitergehen, wie eine Gattin ihren Mann zurechtweist: "Lies, Shah Marai kam 2018 bei einem Bombenanschlag ums Leben, die Fotos können also nicht von 2021 sein. Immer willst du recht haben". Kaum jemand kennt den Namen des AFP-Journalisten, doch für einen weiteren Moment wurde er dem Vergessen entrissen.

Millionen von Erinnerungen

All diese Ausstellungsorte – und es gibt noch mehr von ihnen in Baden - enthalten mehr als nur Bilder. Sie entwickeln eine einzigartige Atmosphäre, die Geschichten lebendig macht, die schließlich als Erinnerungen fortbestehen.

Im Jahr 2022 besuchten 485.277 Besucherinnen und Besucher das Fotofestival "La Gacilly-Baden Photo". Das ergibt auch für 2023 Millionen von Gesprächen über die gesprengten Buddhas von Bamiyan, den weiblichen Shaolin Wushu Club in Kabul und purpurfarbene Salzseen.

Foto: Dirk Hartmann
Bernard Descamps, ein studierter Biologe, wandte sich in den 1970er-Jahren der Fotografie zu. „Die Wirklichkeit besteht nicht nur aus Elend und Gewalt“, so Descamps, der bei seinen Reisen nach Mali, Indien, Venezuela oder ­Madagaskar seine Eindrücke visuell kraftvoll festhielt.
Foto: Dirk Hartmann
Ergänzt wird der Themenschwerpunkt "Orient!" durch Klassiker der Moderne. Rudolf Koppitz (1884–1936) zählt zu den bedeutendsten österreichischen Fotografen der Zwischenkriegszeit.
Foto: Dirk Hartmann
Koppitz' Œuvre spannt einen einzigartigen Bogen vom Piktorialismus zu Art déco und Heimatkunst.

Das Festival La Gacilly-Baden Photo findet von 15. Juni bis 15. Oktober 2023 statt, der Eintritt ist frei. ORIENT! stellt Fotografinnen und Fotografen aus dem Iran, Afghanistan und Pakistan ins Zentrum. Ein weiterer Schwerpunkt beschäftigt sich mit dem weltweiten Klimazusammenbruch, dem drohenden Ökozid. Doch gerade deshalb sei es umso wichtiger, dem Schrecken die Schönheit entgegenzusetzen, wie Dr. Reiner Fageth, Vorstandsmitglied von CEWE, bei seiner Rede bei der Presseveranstaltung betonte. Folgerichtig runden die Siegerfotos des CEWE-Wettbewerbs „Our World is Beautiful“ das Festival ab. 

http://festival-lagacilly-baden.photo