Interview

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Entschleunigt: Slow Photography

„Slow Food“-Anhänger nehmen sich Zeit für Auswahl, Zubereitung und Genuss ihrer Nahrungsmittel. Entsprechend dazu hat sich die „Slow Photography“-Bewegung formiert. Sie entdeckt die Langsamkeit neu.

 

Wer zwei Stunden für eine Aufnahme benötigt, ist nicht zwangsläufig ein „Slow Photographer“. Er ist dadurch auch keinem Schnappschussfotografen überlegen. Aber es gibt ihm möglicherweise den Genuss an der Lichtbildnerei zurück. Denn angesichts von 350 Millionen Fotos, die täglich allein in „Facebook“ landen, darf man bezweifeln, ob sie jemand bewusst goutiert.

Wer die eigene Knipsmanie bekämpft, darf erst einmal tief durchatmen. Dann sollte er überdenken, ob die Bildausbeute der letzten Jahre wirklich den Aufwand rechtfertigte, den er betrieben hat. Schließlich bringt den Neuanfang nur ein gewandeltes Bewusstsein weiter. Nachfolgend könnten entschleunigte Fotografen eine einfache Übung beherzigen: Sie flanieren wie die Dandys des 19. Jahrhunderts mit einer Schildkröte an der Leine herum. Ebenso wie diese kommen sie nur langsam vorwärts und landen an den seltsamsten Orten. Aber damals wie heute hat man mehr Spaß als die Masse, die nur eine Richtung kennt.

Anhänger der „Slow Photography“ zeigen eine Vorliebe für alles, was sie innehalten lässt: analoge Filme, Stative oder Edeldruckverfahren. Allerdings spricht nichts dagegen, sich der Bewegung mit einem Smartphone in der Hand anzuschließen. Denn niemand hat die „Slow Photography“ für sich gepachtet und darf ihr seine Regeln aufzwingen. Nichtsdestotrotz haben sich Richtlinien herausgebildet, an denen man sich orientieren kann:

  • Nimm dir Zeit für deine Motive.
  • Achte mehr aufs Motiv als auf die Kamera.
  • Mache nicht mehr als 30 Bilder pro Tag.
  • Übe dich in kreativen Varianten.
  • Schalte alle Automatiken ab.
  • Man fokussiert nicht mit dem Objektiv, sondern dem Geist.
  • Ist das Bild vor dem inneren Auge perfekt, stellt man manuell scharf.
  • Wenn deine Fotos es wert sind, schule dich in klassischen Fine-Art-Verfahren.

Interview mit Stefan Bucher

Als fast spirituelle Übung sieht Stefan Bucher die „Slow Photography“. Er erzählte bereits im Radio und Internet über diese neu entdeckte Tugend. Im Gespräch mit FOTO HITS ruft er zu mehr Achtsamkeit in der Fotografie auf.

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Stefan Bucher

FOTOHITS: Ist es falsch, etwa bei einem Ausflug munter zu knipsen?

Stefan Bucher: Warum wollen Sie sich auf einem Ausflug mit negativen Gedanken beschäftigen, was falsch und was richtig sein soll? Ich erlebe Ausflüge und das muntere Knipsen als etwas Positives. Die größte Freude machen sie mir, wenn ich mich frei von Gedanken auf den Moment einlassen kann: auf das Wetter, auf die Leute, auf die Geräusche, die Gefühle. In solchen Situation mit meiner Wahrnehmung zu spielen und da und dort Bilder zu sehen, die ich festhalten möchte. Das macht für mich meine Faszination für das Fotografieren aus.

FOTOHITS: Wann haben Sie zum ersten Mal den Begriff „Slow Photography“ verwendet?

Stefan Bucher: Das muss für mich Ende 2012 angefangen haben, als ich das Jahr hindurch an meinem „52 Wochen“-Projekt gearbeitet hatte. Ich erkannte wohl ganz bewusst, dass ich mir für das wöchentliche Bild Zeit einräumen musste. Und wenn ich mir diese Zeit nahm, suchte ich langsam eine passende Fotogelegenheit. Im Herbst 2012 las ich auch von der „Slow Photography Rebellion“ im Blog des Film Photography Projects aus den USA (http://filmphotographyproject.com).

FOTOHITS: Was verstehen Sie selbst darunter?

Stefan Bucher: Die „Slow Photography“ ist keine fest verankerte Bewegung. Es gibt keine Organisation und keine Regeln. Einige Fotografen haben ihre Ideen zu einem verlangsamten Arbeiten im Internet veröffentlicht. Ihnen ist das Handwerk wichtig. Viele bevorzugen es, mit Film und Fotopapier zu arbeiten. Eine beschränkt verfügbare Anzahl von Bildern verlangt von ihnen, sich genau zu überlegen, wann sie abdrücken. Um so mehr Sorgfalt und Geduld fließt so in jede Aufnahme ein. Mit meiner Fotografie kann ich ohne Erwartungen mein Empfinden an einem Ort festhalten. Ich nenne das „langsame Fotografie“, weil ich durch die Langsamkeit Zeit habe, um mich und meine Umgebung in diesem Prozess wahrzunehmen.

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Selbst das Detail einer Autobrücke kann zu einem lohnenswerten Motiv werden. Es ist Teil einer Serie für eine Ausstellung.
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Über die Aufnahme sagt Stefan Bucher: „Unerwartet lag Schnee. Unter diesem Baum zeigten sich die Frühlingsblumen.“

FOTOHITS: Inwieweit unterscheidet sich das von den althergebrachten Methoden?

Stefan Bucher: Die Technik ist für mich nicht entscheidend, es geht für mich bei der „Slow Photography“ um das bewusste Wahrnehmen. Es ist allerdings wahr, dass es einige Fotografen gibt, die die Langsamkeit mit der traditionellen Fototechnik auf Film verbinden. Auch ich fotografiere mit alten Kameras und entwickle meine Schwarzweißfilme selber. Das ist eine persönliche Wahl, weil der ganze Prozess verlangsamt wird. Außerdem kann ich an meine Erfahrungen aus meiner Jugend mit der Fotochemie anknüpfen, da spielt auch eine Portion Nostalgie mit.

FOTOHITS: Wiegt es die technischen Vorteile der letzten Jahre auf?

Stefan Bucher: Für mich ist es ein Vorteil, mich mit meinen alten Kameras unabhängig von Strom und Rechenleistung zu machen. Diese Apparate sind oft so langlebig, dass sie mehrere Fotografenleben überdauern. Und dabei tun sie immer genau das, was sie müssen – sie machen Fotos. Darüber hinaus erhalte ich mit einem Film im Mittelformat ein physisches Bild in sehr hoher Auflösung.

FOTOHITS: Sie benutzen auf Ihrer Website den Begriff „Achtsamkeit“. Kann er einen Fotokurs ersetzen?

Stefan Bucher: Für mich bedeutet Achtsamkeit, die Wahrnehmung im Hier und Jetzt einzuüben. Damit können Sie gleich jetzt anfangen: Nehmen Sie das Licht in ihrem Zimmer wahr, den Raum zwischen Ihnen und einem Objekt in Ihrer Umgebung. Achten Sie dann darauf, wie sich die Situation in jedem Moment verändert. Achten Sie etwa auch auf Ihre Körperempfindungen und Ihre Gefühle. Nehmen Sie dies alles wahr, ohne etwas darüber nachzudenken. Wenn Sie jetzt eine Kamera zur Hand nehmen würden, wäre Ihr Blick geschärft für das, was vorhanden ist. Dann würden Sie sich langsam auf das Objekt zubewegen und Ihr Bild davon suchen. So lernen Sie zu sehen, und dafür brauchen Sie keinen Lehrer. Der Fotokurs hilft vielleicht noch bei den Handgriffen an Ihrer Kamera. Und es ist gut, Tipps und Tricks mit Gleichgesinnten auszutauschen.

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Auf Guernsey, einer der britischen Kanalinseln, streifte Stefan Bucher durch Wälder und an den Klippen entlang.

FOTOHITS: Wie gehen Sie bei eigenen Aufnahmen konkret vor?

Stefan Bucher: Auslöser ist oft, dass ich die Zeit und Gelegenheit zum Fotografieren erkenne – etwa an einem Wochenende, auf einer Geschäftsreise oder in den Ferien. Auf Google Maps suche ich die Landschaft ab und lese Reiseberichte über Ausflugsmöglichkeiten nach. So kann ich etwa eine kurze Wanderung planen. Vor Ort gehe ich ohne Erwartungen umher und lasse mich von der Umgebung leiten. Für ein Motiv suche ich bewusst einen Blickwinkel, oft setze ich ein Stativ ein. Es kommt auch vor, dass ich lange abwarte, bis ich abdrücke, weil ich auf eine Änderung des Lichts warte oder darauf, dass Menschen aus dem Bild verschwinden. Schwarzweißfilme entwickle ich bei mir zu Hause in der Waschküche. Meist scanne ich die Negative ein, um die Bilder im Internet zu teilen.

FOTOHITS: Gehören Sie damit zu einer Avantgarde?

Stefan Bucher: Die Langsamkeit hat in manchen Bereichen unserer Gesellschaft ihre Anhänger gefunden. Sie gleicht das oft hektische Leben und die massenhaften Informationen aus. So bietet die „Slow Photography“ einfach eine sehr kleine Nische in einer pluralistischen Welt. Zu einer Avantgarde würde ich mich deswegen nicht zählen.

Stefan Bucher

Stefan Bucher wurde 1972 in Zürich geboren. Als Jugendlicher lernte er die klassische Dunkelkammertechnik kennen. In seiner Lehre als Reproduktionsfotograf und in einem Job im Ein-Stunden-Fotoservice beschäftigte er sich weiter mit fotografischen Prozessen. Bilder publizierte er unter anderem innerhalb seiner journalis­tischen Tätigkeiten. Seit 2009 arbeitet er fast ausschließlich wieder auf Film. „Slow Photography“ bedeutet für ihn unter anderem, achtsam zu fotografieren. www.sogesehen.ch