Praxis

Bild

Ameisenstaat

Thomas Herbrich

Es gibt sie noch, die guten handgemachten Dinge. Thomas Herbrich beweist in seinem Studio, dass sich Hirn, Humor und Handarbeit nicht durch einen Rechner ersetzen lassen. FOTO HITS warf einen Blick hinter die Kulissen.

Der Fotograf Thomas Herbrich ist bekannt für seine spektakulären Montagen. Sie wirken überraschend lebendig, obwohl sie unzweifelhaft eine künstliche Welt zeigen. Eines ihrer Geheimnisse ist, dass sie eine einfache Weisheit beherzigen: Dass die Wirklichkeit noch immer am überzeugendsten ist. Daher verlässt sich Herbrich nicht nur auf Bildbearbeitungsprogramme, sondern setzt seine Ideen auch mithilfe von Modellbauten um. Angesichts der allgemeinen Begeisterung für virtuelle Welten ist seine Herangehensweise fast einzigartig.

Thomas Herbrich gewährte FOTO HITS einen Einblick in sein Fotostudio. Im Folgenden zeigt er, wie sich Styropor, Tannennadeln und mehr zu einer verblüffenden Komposition zusammenfügen. Und nebenbei erweist er sich als gerechter Herrscher eines Ameisenvolks. Auch dafür gebührt ihm Respekt.

Den Auftrag für den Ameisenhügel erteilte ein finnisches Ingenieurbüro. Dieses hatte bereits eine andere Montage in Auftrag gegeben, ein Wespennest. Auch das neue Werk sollte eine Anzeige illustrieren, die unter dem Motto stand: „Wie würde der Bau aussehen, wenn unsere Ingenieure ihn konstruieren würden?“

Kleine Tiere, große Pläne

Fotoamateure haben den Vorteil, dass sie ihre Projekte völlig frei gestalten können. Den Profi Herbrich engen jedoch gelegentlich die Vorgaben seiner Auftraggeber ein. In diesem Fall aber durfte er alles von Anfang bis Ende planen. Hier zeigen sich geradezu erstaunliche kulturelle Unterschiede: Unter deutschen Agenturen ist eine solche Freiheit eher unüblich, während Kunden im Ausland häufig genau dies erwarten. So konnte der Fotograf beispielsweise dem Architekturbüro ausreden, sich mit dem sichtbaren Teil des Ameisenhügels zu begnügen. Er fand den unterirdischen Bereich mindestens ebenso wichtig – selbst wenn dies mehr Arbeit bedeutete. Also verhalf er dem Insektenstaat zu einem eigenen Tunnelsystem.

Das Leben und Sterben von Ameisen hatte Herbrich vor dem Projekt nicht sonderlich interessiert. Doch im Zuge seiner Recherchen bekam er großen Respekt vor den kleinen Wesen. Um deren perfekter Organisation gerecht zu werden, versuchte er, eine moderne Konstruktion zu erschaffen. Der obere Teil, die Burg, sollte wehrhaft erscheinen. Daher erhielt sie Eingänge mit Bewachung, Antennen, eine Art Tower samt Personal und sogar einen Suchscheinwerfer. Im unteren Teil sollte es dafür etwas lockerer zugehen. Normalerweise besteht das Leben von Ameisen ja nur aus Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. In Herbrichs Staat sollte es ihnen aber besser gehen. Deshalb richtete er einen großen Ballsaal ein, in dem wilde Tanzabende stattfinden können.

Das Gangsystem ist von einem menschlichen Vorbild inspiriert: Dem U-Bahn-Plan von London. Tatsächlich könnte man sich oben links die Endstation Stenmore vorstellen und unten links Kensington. Allerdings sind die kleinen Krabbler besser organisiert: Sie kommen ohne Staus und Unfälle durch ihre Gänge. Als Verweis auf das historische Vorbild hat Herbrich einen Hinweis hinterlassen. Im linken Tunnel leuchtet ein kleines rot-weißes Schild, das in London allerorten auf das immerhin älteste U-Bahn-Netz der Welt verweist. Allerdings ist es aus Blütenblättern statt aus Metall gefertigt. Solche liebevollen Details dürften einen Teil des Charmes ausmachen, den Herbrichs Aufnahmen versprühen.

Wie Thomas Herbrich sagt, beschleunigt der Computer keinswegs das Denken – wie könnte er auch. Er hilft allenfalls bei der Durchführung. Daher bringt Herbrich manche Entwürfe zuerst als klassische Skizze zu Papier, bevor er sich an die Produktion macht.

Nicht nur der technischen Durchführung drückt Herbrich seinen unverwechselbaren Stempel auf. Sondern auch die liebevollen Details sind ein Markenzeichen von ihm. Das Bild unten etwa zeigt ein Detail des Tunnelsystems. Dort gönnt er seinem Ameisenvolk etwas Spaß, indem er ihm einen Ballsaal eingerichtet hat.

Die Lampen bestehen aus echten Blüten, das Licht ist jedoch digital erzeugt. Allerdings kommt man mit partiellem Aufhellen nicht weit. Die Kunst besteht darin, es etwa in den Gängen zu dimmen oder sogar die Schatten zu berücksichtigen, die manche Gegenstände werfen.

Solide Bauweise

Der Kern des Ameisenhügels ist leider nicht bewohnbar. Er wurde anhand der Skizzen aus einem Block Styropor geformt. Für solche Arbeiten hat Herbrich einen bewährten Mitarbeiter: Seinen Modellbauer Nils Carstensen. Die äußere Schicht ist komplett „naturbelassen“ und mit Tannennadeln bedeckt.

Getrennt vom Burgberg entstand das Tunnelsystem. Es ist etwa zwei Meter breit und besteht aus einer ökologisch inkorrekten Mischung aus Gras­soden und Styropor. Dafür sieht es nichtsdestotrotz sehr natürlich aus.

Die Beleuchtung in den Gängen besorgen Blütenkelche. Allerdings hat sich der Bauherr erspart, tatsächlich elektrische Leitungen zu legen. Stattdessen brachte digitales Handwerk die Lampen zum Leuchten. Dies ist grundsätzlich nicht besonders schwierig: Mit einem weichen, gelben Farbverlauf lässt sich der Lichtschein schön simulieren. Wer den fortlaufenden Praxiskurs in FOTO HITS verfolgt hat, kennt eine ähnliche Technik, um Schatten zu erzeugen. Höllisch schwer ist es aber, Aufhellungen und Schatten richtig zu verteilen, denn eine ungleichmäßige Oberfläche wird natürlich nicht gleichmäßig beschienen. Dies ist etwa am Suchscheinwerfer zu sehen, der die Einbuchtungen und Vorsprünge des Ameisenhügels berücksichtigen muss.

Der oberirdische Burgberg entstand aus Styropor, Tannennadeln und Grassoden.
Der oberirdische Burgberg entstand aus Styropor, Tannennadeln und Grassoden.
Auch für das unterirdische Tunnelsystem verwendete Modellbauer Nils Carstensen eine Mischung aus Styropor und echter Natur.
Auch für das unterirdische Tunnelsystem verwendete Modellbauer Nils Carstensen eine Mischung aus Styropor und echter Natur.

Ein Volk formiert sich

Ein echtes Kunstwerk sind aber die Ameisen. Im Foto sind ungefähr 90 von ihnen zu sehen. Echte Ameisen hätten Herbrich vor zwei unlösbare Probleme gestellt: Erstens würden sie die Autorität des Burgherrn missachten und sich weigern, für ihn zu tanzen. Zweitens besitzen Makroaufnahmen naturgemäß eine geringe Schärfentiefe, die nur teilscharfen Insekten wären also unbrauchbar. Also musste wieder ein Modell her.

Es wäre eine wahnsinnige Kleinarbeit, wenn Carstensen sie alle als Individuen erschaffen hätte. Stattdessen entstand ein einziges, dafür aber mit beweglichen Gliedmaßen. Statt Chitin war ihr Baustoff Fimo, das mancher vielleicht noch aus seiner Kindheit kennt. Herbrich fotografierte das Ergebnis dann in verschiedenen Positionen. Da die Tierchen nur relativ klein abgebildet sind, fällt dem Betrachter nicht auf, dass das kleine Staatsvolk ziemlich charakterlos ist, da es nur aus Klonen besteht. Doch trotz des einen Modells war die Nachbearbeitung mühevoll genug. Schließlich mussten die  Tiere noch einzeln freigestellt werden.

Den Abschluss machte der Hintergrund. Damit die beleuchteten Gänge gut herauskommen, entschied sich Herbrich für eine Szene im Dämmerlicht. Sie besteht aus den Elementen von insgesamt fünf Fotos.

Jetzt konnte Herbrich stolz auf sein Reich blicken. Doch übte er sich in Demut und nahm eine mögliche Niederlage gleich vorweg. Auf die Frage: „Hat Thomas Herbrich im Ameisen-Ballsaal mitgetanzt?“ antwortetet er: „Er durfte nicht. Zwar tanzt er tierisch, aber wie der Storch im Salat!“ 

Die Ameise besteht aus Fimo, einer Modelliermasse aus Kunstoff. Ihre Gliedmaßen sind etwas dicker geformt, da sie beim Freistellen ohnehin schlanker werden.
Die Ameise besteht aus Fimo, einer Modelliermasse aus Kunstoff. Ihre Gliedmaßen sind etwas dicker geformt, da sie beim Freistellen ohnehin schlanker werden.
Die hohen Maßstäbe Herbrichs drücken sich in seinem Bedauern aus, dass das Modell recht schlicht sei – es fehlten beispielsweise Härchen. Doch hätten sie das Freistellen zu einer Qual gemacht, die nicht einmal mit sprichwörtlichem Ameisenfleiß au
Die hohen Maßstäbe Herbrichs drücken sich in seinem Bedauern aus, dass das Modell recht schlicht sei – es fehlten beispielsweise Härchen. Doch hätten sie das Freistellen zu einer Qual gemacht, die nicht einmal mit sprichwörtlichem Ameisenfleiß auszuhalten wäre.
Die Tänzer, Wächter und Arbeiter waren zwar nicht individuell formbar. Doch bogen Herbrich und sein Baumeister ein Modell immer wieder neu zurecht und lichteten es aus verschiedenen Perspektiven ab.
Die Tänzer, Wächter und Arbeiter waren zwar nicht individuell formbar. Doch bogen Herbrich und sein Baumeister ein Modell immer wieder neu zurecht und lichteten es aus verschiedenen Perspektiven ab.

Das fertige Bild

Interview

FOTOHITS: Darf man sich den kleinen Herbrich vor der „Augsburger Puppenkiste“ kniend vorstellen, wie er davon träumte, ähnliche Kulissen zu erschaffen?

Thomas Herbrich: Ja. Ein Freund der Familie war Bühnenbildner, und seine Modelle habe ich geliebt. Ich habe gern selbst gebastelt, und mein allererstes Foto war ein Modellflugzeug, in dessen Heck ich ein paar Streichhölzer gezündet habe. Da war ich neun Jahre alt. Leider kann ich das Bild – umzugsbedingt – gerade nicht finden.

FOTOHITS: Liest man Ihre Beschreibungen, scheinen die Kulissen in fröhlicher Bastellaune zu entstehen. Wie viel Stress bedeutet es tatsächlich für Ihr Team?

Thomas Herbrich: Wenn wir solche Aufträge haben – und sie werden deutlich weniger – kann das durchaus Stress bereiten, aber bei uns herrscht fast immer gute Laune. Wir haben auch fast nie Kunden im Haus, denn die sind ja meist nicht in Deutschland, weswegen alles übers Internet läuft.

FOTOHITS: Verstehen Sie sich als letzte Bastion ehrlicher Handwerskunst?

Thomas Herbrich: Ich benutze den Computer ja exzessiv – ich gehöre sogar zu den allerersten, seit 1988. Da nannten viele Leute das Ding noch „Elektronengehirn“. Allerdings arbeite ich nicht mit computererzeugten Bildern (CGI) – ich fotografiere digital und bearbeite digital, aber ich rendere nichts. Ich habe bis 1996 hauptsächlich das klassische Composing betrieben, also die Diamontage. Das erforderte sehr viel Feinmotorik und Übung, ja sogar eine „seriöse Lebensführung“! Wenn man abends Alkohol trank, konnte man am nächsten Tag nicht mit dem Skalpell freistellen. Die Hand zitterte zwar nur minimal, aber zu viel für präzises Arbeiten unter der Lupe. Heute kann man sogar sturzbetrunken perfekte Freisteller im Photoshop machen!

FOTOHITS: In welchen Punkten ist Ihre Technik dem Computer überlegen?

Thomas Herbrich: Alles, was Menschenhand erschafft, wie etwa Gebäude, kann man sehr gut rendern. Aber die Simulation von Natur ist viel schwieriger. Auch Prozesse wie Verwitterung sehen im klassischen Modellbau besser aus und sind sehr schnell gemacht. CGI kann meiner Arbeit durchaus überlegen sein – ich habe aber keine Lust, mich in dieses sehr komplexe Thema einzuarbeiten. Für das klassische Composing habe ich jahrelang lernen müssen, beim 3D-Rendern ist die Technik noch deutlich komplexer.

Wissen Sie, woran gute CGI-Leute leiden? An Kurzsichtigkeit und Hämorrhoiden, und dick werden sie auch alle! Sitzen ewig vor dem Computer und müssen sich die Wirklichkeit aus den Fingern saugen, an der sie aber mangels Gelegenheit kaum noch teilnehmen.

Eine Ameise, wie man sie mit Google Sketchup (siehe „Software“ auf Seite 30) erhält, sieht doch mies aus, ein Pappmodellchen. Nils baut einen Tag dran herum, und ich fotografiere sie in hundert Positionen – die Gliedmaßen sind ja beweglich. Wenn Nils einen Tag arbeitet, kostet das 800 Euro, aber dafür lässt sich wohl kein wirklich gutes Ameisenmodell rendern.

Unsere Arbeit bringt auch einen wenig beachteten Vorteil mit sich: Der Kunde hat am Schluss ein schönes Objekt auf dem Schreibtisch (etwa die Ameise), beim CGI kriegt er nur eine DVD. Die meisten Modelle werden aber leider weggeschmissen. Nur wenige hebe ich auf, beispielsweise für Ausstellungen.

FOTOHITS: Wie groß ist die Mehrarbeit, wenn man einen Ameisenhügel aus Styropor statt aus Pixel baut?

Thomas Herbrich: Den Ameisenhügel hat mein Modellbauer Nils Carstensen innerhalb einer Woche gebaut – das werden Sie bei CGI in der Qualität nicht schneller hinkriegen – schließlich geht es ja um winzige Details und Strukturen. Und man darf nicht vergessen: Das Nachdenken und Ausprobieren wird durch den Rechner keineswegs beschleunigt. CGI simuliert ja nur etwas, Nils baute den Ameisenhügel mit Original-Materialien im Verhältnis 1:1. Das wird immer echter aussehen!

FOTOHITS: Würden Sie komplett auf digital umsteigen, wenn es in den maßgeblichen Bereichen (Zeit, Kosten) Vorteile brächte?

Thomas Herbrich: Wenn mein Studio auch CGI anbieten würde, bräuchte ich einen Mitarbeiter mit teurem Spezialwissen und eine längere „Einspielzeit“. Was ist, wenn der nach sechs Monaten geht?

Wie gesagt, CGI sehe ich nicht als meine persönliche Zukunft. Aber natürlich ist es das Verfahren der Zukunft. Es passt in unsere Welt, in der wir schon echte Musikinstrumente nicht mehr von künstlichen unterscheiden können, Vanillearoma nicht von echter Vanille und wir mit Fastfood zufrieden sind. Ich hadere nicht damit, aber ich mag es auch nicht.

FOTOHITS: Kunden sind gelegentlich launenhaft. Ist es nicht verheerend, wenn man auf relativ schlecht zu ändernde Bauten setzt?

Thomas Herbrich: Wir zeichnen unsere Ideen schon recht präzise auf, der Kunde weiß dann, was ihn erwartet. Außerdem üben wir eine künstlerische Tätigkeit aus, da hat die Gestaltungskraft des Ausführenden einen hohen Stellenwert. Das Architekturbüro wird ja die Schwierigkeiten kennen: Haus gebaut, Kunde meckert. Das wird aber in aller Regel nicht abgerissen!

FOTOHITS: Die Einzelteile einer Montage passen selten zueinander. Lösen Sie solche Proble­me bereits bei der Aufnahme oder später am Computer?

Thomas Herbrich: Die Einzelteile zu einem harmonischen Ganzen zusammen zu fügen – das ist sauschwer! Vor allem in der Perspektive muss es bei der Aufnahme schon hunderprozentig passen, Abweichungen kann man kaum korrigieren. Die Lichtrichtung lässt sich ebenfalls nur schwer nachträglich umwandeln. Ich achte bei der Aufnahme ganz genau auf die technischen und inhaltlichen Bedingungen einer Bildkomposition, das erfordert präzise Planung. Und ganz viel Erfahrung!