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Ästhetik verstehen: Neues Sehen

Aufstand der Bilder

Mit dem „Neuen Sehen“ brach die Fotografie in die Moderne auf. Die Stilrichtung entwickelte nicht nur verblüffende Perspektiven, sondern sicherte dem Lichtbild erstmals einen Platz in der Kunst.

Viele Künstler, die 1918 aus dem Ersten Weltkrieg heimkamen, hatten sinnlose Stellungskriege und Massensterben mit Senfgas hinter sich. Vor ihnen lagen die Goldenen Zwanziger, die aber oftmals Arbeitslosigkeit inmitten einer brutalisierten Gesellschaft bedeuteten. Einige antworteten mit Werken, die grell das Ungeheuerliche zu fassen versuchten. Andere reagierten, indem sie ihre Umgebung kühl und präzise wiedergaben.

Vom Foto zur Kunst

In der Fotografie zog dieser nüchterne Blick einen grundlegenden Bruch mit der Vergangenheit nach sich. Anders jedoch als die Malerei brachte er mehr als bloß eine weitere Avantgarde hervor: Vielmehr verhalf er der Fotografie überhaupt erst dazu, als eigene Kunstform anerkannt zu werden.

Denn bis in die 1920er Jahre hinein stand die Fotografie im Schatten der Malerei. Sie hatte sich von ihrem Vorbild ebenso wenig gelöst wie gegenwärtig das digitale Bild vom chemischen Film. Damals wie heute wurde das Bewährte einfach nur übertrieben: mit mehr Retuschen, Montagen, Farbveränderungen und viel Ausstattung. Eine eigene Bildsprache war noch nicht in Sicht. Vorsintflutliche Beispiele dafür lieferte Julia Margaret Cameron, die um 1870 wildromantische Bühnenbilder inszenierte, von denen manche heute unfreiwillig komisch wirken. Gegen diesen Popanz trat eine neue Generation von Künstlern an.

Den heilenden Schock des „Neuen Sehens“ wünscht man auch heute noch Fotografen, die sich nicht über verträumte Sonnenuntergänge hinauswagen. Weitaus mutiger dürfte es sein, Obst auf radikal neue Weise abzubilden. Berühmte Aufnahmen von Edward Steichen (1878 bis 1973) etwa zeigen gewöhnliche Motive wie „Birnen auf meinem Teller“ oder eine „Schubkarre voller Blumentöpfe“. Für das Birnenfoto nahm er ein Leintuch, schnitt ein winziges Loch hinein und konnte dank geringem Licht eine Langzeitaufnahme machen. In diesen Stunden schrumpfte und dehnte sich das Obst je nach Temperatur und Feuchtigkeit. Diese leichte Veränderung bewirkte eine eigentümliche Unschärfe, die digital nicht zu erzeugen wäre. Nicht zuletzt inspirierte sie unzählige Theoretiker, über Zeit und Wahrnehmung in der Fotografie zu philosophieren.

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Das sowjetische Poster stammt aus dem Jahr 1924 und hängt in Abwandlung in vielen Wohnungen. Model war die Regisseurin und Bildhauerin Lilja Brik, gestaltet hat es Alexander Rodtschenko. Es dient als gutes Beispiel für die Experimentierfreudigkeit, die Fotografie und Grafik ebenso wie Politik und Kunst durchzog.
László Moholy-Nagy
László Moholy-Nagy (1895 bis 1946): Das Schiff "Scandinavia", 1930Courtesy: Ford Motor Company Collection, Geschenk Ford Motor Company und John C. Waddell an Wikimedia Commons, 1987

Niemand hatte der neuen Generation von Fotografen vorgemacht, wie sie zu arbeiten hätten. Noch unbelastet von Namen wie Cartier-Bresson, Newton oder Mapplethorpe experimentierten sie frei mit dem neuen Medium. Dabei beflügelte sie nicht ausschließlich ihr Genie, sondern – wie immer in der Kunstgeschichte – war es die Technik, die nachhalf. Der russische Konstruktivist Alexander Rodtschenko (1891 bis 1956) etwa konnte seine Kamera kühn in alle Richtungen schwenken, weil sie klein und leicht war. Die „Vest Pocket Kodak“, die Filmstreifen von nur 6,5 Zentimetern Breite benutzte, hatte er sich 1925 gekauft. Dadurch war er nicht mehr an die 9-mal-12-Kamera im Atelier gefesselt, sondern konnte frei umherstreifen, um beispielsweise die Bahnhöfe und Brücken Moskaus festzuhalten.

Die konkreten Stilmittel lassen sich recht einfach auflisten: Beliebt war,

  • Gegenstände unendlich aufzureihen oder Menschenmengen zu zeigen,
  • extreme Blickwinkel einzunehmen,
  • Rodtschenko verwies zudem auf geometrische Bildaufbauten wie Pyramide, Diagonale, Horizontale, Kreis und Kreuz.
  • Typisch für diese Zeit sind auch Fotomontagen, mit denen beispielsweise John Heartfield legendär wurde.
  • Und schließlich betteten die Künstler ihre Fotos in literarische oder journalistische Texte ein.

Neben dieser formalen Aufzählung ist nicht zu vergessen, dass ein Fotograf wie André Kertész auch durch seinen geschulten Geschmack auffiel: Seine Schwarzweißaufnahmen besaßen meisterhafte Grauabstufungen.

Wer wollte, konnte diese Ästhetik sogar lernen, kaum dass sie entstanden war. Viele Künstler der 1920er Jahre vereinte der Glaube, man könne die Kunst in den Alltag jedes Menschen bringen. Dies betraf eine Tasse im Bauhaus-Design ebenso wie ein Porträt von Kertész. So lehrte die Kunstschule „Bauhaus“ in Dessau ab 1929 die Fotografie, dazu kamen die so genannte Itten-Schule, die Berliner Fotoschule von Werner Graeff, die Stuttgarter Kunstgewerbeschule, die Folkwangschule Essen und andere.

Kulturphilosophen wie Walter Benjamin erkannten, dass die Kameratechnik ein aufregendes Eigenleben entfaltet hatte: Sie durchdrang die Wirklichkeit und erschuf sie neu. 

Beispielsweise hätte das menschliche Auge alleine niemals so ausgedehnte Schärfentiefen, lange Belichtungszeiten und extreme Bildwinkel erfasst. Erst der Apparat ermöglicht, dorthin vorzustoßen. Trotz aller Hilfsmittel wird aber die unmittelbare Wirklichkeit auf den Film gebannt.

Ein Tilt-Shift-Objektiv etwa zeigt nicht nur eine exaktere Realität, wie sie ein Architekt auf dem Reißbrett entwirft. Darüber hinaus ringt es ihr neue Facetten ab. Benjamin erkannte die Poesie hinter der Linsenkonstruktion. Er sagte, dass man mit ihr die „Blaue Blume im Land der Technik“ entdecken könne.

Versucht man heute, dem „Neuen Sehen“ nachzueifern, ist das Scheitern vorprogrammiert. Wer etwa den Wegen Rodtschenkos folgt, findet vielleicht noch dieselben Gebäude in ähnlichem Licht. Doch hat sich unsere Wahrnehmung verändert: Die damalige Welt war durchdrungen von der Verheißung, die Menschen könnten sich, ihre Umgebung und ihre Geschichte neu erfinden. Rodtschenko etwa sagte: „In der Fotografie gibt es die alten Brennpunkte, den Gesichtswinkel des Menschen, wie er auf der Erde steht und umherschaut. Das ist, was ich ,Fotografie aus der Nabelperspektive‘ nennen würde, mit der Kamera in Magenhöhe. Die moderne Stadt mit ihren hohen Gebäuden, Industrieanlagen, [...] bunte Reklame, all dies hat einen Wandel im Charakter der visuellen Wahrnehmung herbeigeführt. Der interessanteste zeitgenössische Aspekt ist der Blick von ,unten nach oben‘ und ,oben nach unten‘. Daran müssen wir arbeiten. Ich habe keine Ahnung, wer diese Perspektiven erfunden hat, aber ich glaube sie lagen seit langem in der Luft.“

Von der Kunst zum Müll

Das „Neue Sehen“ erkennt man heute in jedem Motiv, das einen kühlen und zugleich kühnen Bildaufbau besitzt. Allerdings führt mittlerweile jedes Bild, das einen Vorgänger zitiert, ein seltsames Eigenleben: Die Rockband „Franz Ferdinand“ benutzte das eingangs abgebildete Motiv für eine Albumhülle, derselbe Frauenkopf rief auf Plakaten zum Putzen in Wohngemeinschaften auf.

Das permanente Recycling hat viele Fotos schlicht in Wohlstandsmüll verwandelt. Lässt sich angesichts dieser Resteverwertung noch „die Blaue Blume im Land der Technik“ entdecken? Vermutlich muss nur jemand mutig genug sein, eine Birne komplett neu zu betrachten.