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Dorothea Lange: Philippinische Arbeiter ernten Salat, Salinas, Kalifornien. 1935.

Dorothea Lange

Migrant Mother

Manche weltberühmte Foto-Ikone erleidet ein unbegreifliches Schicksal: Sie ist so bekannt, dass niemand mehr auf die Geschichten hört, die sie erzählt. FOTO HITS bringt Dorothea Langes „Migrant Mother“ (Mutter auf Wanderarbeit) zum Sprechen.

Dorothea Lange
Dorothea Lange mit ihrer Mittelformatkamera Graflex 4×5 Series D.

Die Cheerokee-Indianerin Florence Leona Christie hatte ein elendes Leben hinter sich, als die Fotografin Dorothea Lange sie 1936 traf. Ihr Weg war früh vorgezeichnet: Ihr Vater, ein Krimineller, verließ die Familie noch vor ihrer Geburt im Jahr 1903. Mit 16 heiratete Florence den Bauern Cleo Owens, der bereits mit 32 Jahren an Fieber starb. Zu diesem Zeitpunkt ging sie mit dem fünften Kind schwanger.

Die "Große Depression"

In einer Abwärtsspirale hatte sich die Welt dem ärmlichen Indianerreservat angepasst: Die Landwirtschaft lag in den gesamten USA darnieder, absurderweise ausgerechnet wegen ihrer Modernisierung:

Erstens führte sie zu einer dauerhaften Überproduktion, die die Preise verfallen ließ. Zweitens trieb die zunehmende Mechanisierung viele Kleinbauern in den Ruin, da sie nicht Schritt halten konnten. Drittens verursachten die kurzsichtigen Rodungen riesige Staubstürme in der Prärie, denen die Farmer hilflos ausgeliefert waren. Den Rest erledigte der Börsencrash von 1929, der eine Massenverelendung nach sich zog.

Präsident Roosevelts Politik des „New Deals“ sollte ab den 1936er Jahren insbesondere den Landarbeitern wieder auf die Beine helfen. Um ihre Lage zu dokumentieren, ließ die amerikanische Wiedereingliederungsbehörde überall im Land Fotografen ausschwärmen. Neben dem ebenfalls berühmten Walker Evans gehörte zu ihnen die damals 41-jährige Dorothea Lange (1895 bis 1965).

Solidarität und Widerstand

Dorothea Lange: Migrant Mother
Bild: Library of Congress, Abteilung „Prints & Photographs“, Sammlung der Farm Security Administration, Nummer der Reproduktion: LC-DIG-fsa-8b29516.

In das Heer entwurzelter Landarbeiter hatte sich die Familie Owens eingereiht. Auf der Suche nach Arbeit gelangte sie von Oklahoma nach Kalifornien. Dort brachte allerdings die erste Bohnenernte nur magere Erträge, was den gestrandeten Existenzen den Rest gab. Da die Farmbesitzer keine Pflücker einstellten, musste die Familie sogar die Reifen ihres Autos verkaufen, womit sie rettungslos im Elend gestrandet war.

Lange schilderte 1960 in der Zeitschrift „Popular Photography“ ihr Zusammentreffen: „Ich sah und steuerte die hungrige und verzweifelte Mutter an, als ob mich ein Magnet angezogen hätte. Ich weiß nicht, wie ich ihr meine Anwesenheit oder die meiner Kamera erklärte, aber ich erinnere mich, dass sie keine Fragen stellte. [...] Sie erzählte mir, dass sie von gefrorenem Gemüse auf den Feldern ringsherum lebe und von Vögeln, die ihre Kinder töteten.“

Am 10. März 1936 erschien das Foto erstmals in der liberalen Zeitschrift „San Francisco News“. Das führte zu spontanen Hilfsmaßnahmen, indem Lebensmittellieferungen in die Region veranlasst wurden. Außerdem illustrierte es eine Studie, die Lange mit ihrem Ehemann Paul Taylor verfasst hatte. Diese veranlasste die Regierung, 20 Millionen Dollar für den sozialen Wohnungsbau freizugeben. Neben weiteren Veröffentlichungen erhielt das Foto einen Platz in der legendären Ausstellung „The Family of Man“ des Museum of Modern Art, die 1951 in New York stattfand. Fast zynisch erscheint, dass 1998 ein Originalabzug dieser Elends-Ikone für 250.000 Dollar versteigert wurde. Im selben Jahr wurde sie mit einer amerikanischen Briefmarke geehrt.

Wie aber ging es mit Florence Owens weiter? Anders als das Foto nahelegt, gab sie sich nicht mit einer Opferrolle zufrieden. Von ihr ist bekannt, dass sie sich mit anderen zusammenschloss, um die Position der Farmarbeiter zu stärken. So half sie ihnen dabei, sich zu organisieren und handelte mit den Farmbesitzern die Löhne aus. Als sie Mitte der 1950er Jahre den Krankenhausverwalter George Thompson heiratete, entfloh sie endgültig der Armut. Florence starb am 16. September 1983 im Alter von 80 Jahren an Krebs. Sie hinterließ zehn Kinder, 39 Enkel und 74 Großenkel.