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Eadweard Muybridge

Left Foot Hop

„Das ist ein kleiner Hüpfer für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit!“. So hätte auch Blanche Epler sprechen können, als sie an einer langen Stafette von Kameras vorbeihüpfte. Ihr Körpereinsatz sollte Geheimnisse offenbaren, die dem menschlichen Auge bislang verborgen blieben. Das gelang Eadweard Muybridge (1830 bis 1904) mit dem geballten Wissen, das seine Zeit hinsichtlich Mechanik, Elektrik und Chemie besaß.

Die Geschichte beginnt 1884, als das 19. Jahrhundert technisch angekurbelt aufs 20. zuraste. In einem ähnlichen Tempo beschleunigten sich die Belichtungszeiten von Kameras und damit ihre Fähigkeit, schnelle Bewegungen sichtbar zu machen.

Noch 1826 benötigte Joseph Nicéphore Nièpce eine Verschlusszeit von acht Stunden, um ein Gebäude auf lichtempfindlichen Asphalt zu bannen. Ab 1841 musste ein Mensch nur etwa 30 Sekunden stillsitzen. Und zwischen 1850 und 1870 entstand das nasse Kollodiumverfahren, das Eadweard Muybridges Aufnahme ermöglichte. Dabei wurde Schießbaumwolle in Alkohol und Äther gelöst, um an möglichst lichtempfindliches Material zu gelangen. Mit dieser sirupartigen Mischung konnte man außerdem Wunden behandeln und Sachen in die Luft sprengen. Muybridge entwickelte sein eigenes Geheimrezept, mit dem er erstaunliche Belichtungszeiten erzielte.

Sein handwerkliches Geschick hatte Muybridge bewiesen, als er um 1861 eine Maschine patentieren ließ, die „Kleidung und andere textile Artikel“ waschen konnte. Doch wurde er zur Fotografenlegende, weil er zwischen 1872 und 1873 eine Frage klärte, die viele Pferdenarren bewegte: Gibt es beim Galopp einen Moment, in dem alle vier Hufe in der Luft sind? Die Antwort fand der Fotograf mit einem ähnlich simplen Aufbau, mit dem Leser von FOTO HITS etwa explodierende Eier aufnehmen können (siehe Bastelanleitung in FOTO HITS 1-2/2012).

  1. Entlang einer Reitbahn reihte Muybridge mehrere Kameras auf. An ihre Linsenkonstruktionen brachte er einen Spezialverschluss an.
  2. Sobald ein Pferd eine der Kameras passierte, zerriss es einen dünnen Draht. Dadurch wurde ein Stromkreis geschlossen, der den elektromagnetischen Verschluss auslöste.
  3. Dieser so genannte Guillotineverschluss bestand im Wesentlichen aus zwei Brettchen, die mit Gummibändern gespannt wurden, wobei das eine oben und das andere unten in einer Führungsschiene saß. In diese Fallbeile waren Schlitze geschnitten. Wenn sich beide Öffnungen in einem Sekundenbruchteil begegneten und so ein Fenster entstand, erfolgte die Belichtung.

Im Jahr 1879 hatte der Tüftler das Verfahren deutlich verfeinert. Als Auslöser diente ein Uhrwerk, das in fest abgestimmten Zeitläufen rotierte. Es war mit Kontakten versehen, sodass es einen elektronischen Schalter ergab.

Um 1883 baute Muybridge einen noch raffinierteren Auslösemechanismus: Ein Zeitschalter gab elektromagnetische Impulse an die Kameraverschlüsse ab. Wie lange sie offen blieben, konnte exakt berechnet werden. Im Stromkreis schwang nämlich ein Mechanismus, der Spuren auf Papier hinterließ. Aus ihnen ließen sich die Abstände ablesen, in denen der Auslöser betätigt wurde, außerdem zeigte er die Verschlusszeit an. Das Gerät lässt sich auf einem Foto des „National Museum of American History“ in Washington D.C. bewundern. 

Zitat Muybridge: „In der nicht allzu fernen Zukunft wird man […] eine ganze Oper, mit allen Gesten, Gesichtsausdrücken und Gesängen der Schauspieler sowie der Begleitmusik aufnehmen und mit Hilfe eines Geräts reproduzieren.“

Wahrheit tut weh

Die University of Pennsylvania finanzierte 1883 ein Projekt, das der Wissenschaft dienen sollte. Dieses ließ sie sich insgesamt 40.000 US-Dollar kosten. Muybridge leistete hierfür eine wahre Herkulesarbeit: Er belichtete vom Frühjahr 1884 bis Herbst 1885 insgesamt 100.000 Glasplatten, die beispielsweise einen Yogi oder ein Känguruh zeigen, oder eine Hausfrau, die ihrem Kind den Hintern versohlt. Jede nur denkbare Bewegung sollte detailliert festgehalten werden.

Allerdings ging Muybridge gelegentlich wohl der Gaul durch. Die Hühner auf Platte 781, die er mit Explosionen aufscheuchte, dürfte er zu seiner eigenen Belustigung malträtiert haben. Ebenso skurril erscheint eine Slapsticknummer, die ein Maultier und einen Gentleman beim gemeinsamen Dinner vorführt.

Höchst seriös ist dagegen das einbeinige Hüpfen auf der 1884 entstandenen Platte Nummer 185. Hier wurde das Model Nummer 12 mit einer Belichtungszeit von 1/141 Sekunde abgelichtet, wie Muybridge notierte. Selbst bei der Auswahl der Models ließ Muybridge größte Sorgfalt walten. Ein Jahr später beklagte er sich gegenüber einem Journalisten der „Philadelphia Times“: „Ich hatte eine Menge Schwierigkeiten durchgemacht, passende Models zu beschaffen. Vorrangig solche, die Künstlern Modell stehen, sind in der Regel ignorant und unerzogen. Demzufolge sind ihre Bewegungen wenig graziös und es ist doch wesentlich für die gründliche Durchführung meiner Arbeit, dass meine Models eine graziöse Haltung besitzen.”

Weil manche Bewegungen nicht zu ihrer Wahrnehmung passten, zweifelten einige sogar die Seriosität der Aufnahmen an. Denn manches, das bei flüssigem Ablauf elegant wirkt, sah zerhackt plötzlich lächerlich aus. Und da nicht sein kann, was nicht sein darf, sollte Muybridges Technik am gekränkten Selbstbild schuld sein.

Aufnahmetechnik

Muybridge hatte eine lange Bahn mit Gummimatten ausgelegt. Damit jede Bewegung exakt zu analysieren war, zeichnete er im Hintergrund ein Raster von fünf Zentimetern ein.

Seine Kameras stellte er in einem Abstand von 15 Zentimetern auf. Zuerst beschränkte er sich auf zwölf Stück, dann erweiterte er sie auf 24. Neben den parallel zur Aufnahmeachse angeordneten Konstruktionen standen zwei seitlich versetzt, um auch diese Perspektive zu erfassen. Alle Kameras konnte er automatisch in Abständen von 1/60 bis zu mehreren Sekunden auslösen.  

Als Medium benutzte Muybridge Kollodium-Trockenplatten im Format vier mal fünf Zoll. Diese erlaubten ihm die bis dahin unerreichte Verschlusszeit bis zu 1/6.000 Sekunde! Selbst der Flügelschlag eines Vogels, über den bereits Leo­nardo da Vinci erfolglos gegrübelt hatte, verriet hiermit seine Geheimnisse. Übrigens kann man den Versuchsaufbau mit sämtlichen Details selbst nachlesen, da Muybridge alles penibel festgehalten hat. Das Dokument ist im Format PDF aufrufbar.

Die abgelichteten Damen erlebten sogar noch die Technik des digitalen Zeitalters. Im Jahr 1994 suchte Sheldon Chase Bewegungsstudien, mit denen er eine Action-Heldin zum Leben erwecken konnte. Er fand sie in Muybridges Bilderfolge, die er kurzerhand übernahm. Den viktorianischen Ladys verpasste er einen Badeanzug aus Pixel und setzte sie in Spielen als „Woman Warrior“ in den „Outer Limits“ oder dem „Attack from Below“ ein.