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Bild

Lewis H. Hine

Kraftakt

Feiert das Foto einen Helden der Arbeit oder prangert es die Versklavung durch Maschinen an? Bis heute nehmen es diverse Weltanschauungen in Beschlag. Ironischerweise diente das proletarische Kultbild sogar für einen Kunstbetrug.

Das Foto rechts behauptet sich mit der Kraft einer Dampfmaschine, seit es 1920 auf eine Glasplatte gebannt wurde: Der Regisseur Fritz Lang zitierte es 1926 im Film „Metropolis“, in „Moderne Zeiten“ von 1936 verwandelte es Charles Chaplin in ein groteskes Ballett, die Rock-Gruppe „Rush“ schmückte mit ihm 2008 ihre DVD „Snakes & Arrows“ und heute zählt es zu den Ikonen der Modebewegung „Steam Punk“.

Wie viele Künstler erlebte Lewis Wickes Hines (1874 bis 1940) den Erfolg nicht mehr. Vielmehr kämpfte er Zeit seines Lebens um das finanzielle Überleben. Im Jahr 1905 gab er seine Arbeit bei der New Yorker „Ethical Culture School“ auf, um sich ganz der Fotografie zu widmen. Er tauschte sie gegen eine Anstellung beim Nationalen Komitee gegen Kinderarbeit (NCLC), die ihm nur etwa 100 US-Dollar plus Spesen brachte (der US-amerikanische Durchschnittslohn lag bei etwa 600 US-Dollar). Als ihm das NCLC 1918 die Bezüge kürzte, kam er beim Roten Kreuz unter, dessen Wirken in Europa er zwei Jahre lang dokumentierte.

Das Bild entstand in den USA für das Magazin „Survey Graphic“, die es 1921 als Teil der Bildreportage „Power Makers” abdruckte. Mit Bedauern wurde Hine mitgeteilt, dass man nur 30 US-Dollar für zwei Fotos bezahlen könne. Er starb 1940 völlig verarmt. Fünfzig Jahre später brachten Erstabzüge seiner Aufnahmen (so genannte „Vintage-Prints“) bis 50.000 US-Dollar.

Gebremste Kraft

Das Bild zeigt einen Arbeiter in einem Kraftwerk, der an einer Dampfturbine schraubt. Es entstand 1920 oder 1921. Für die erste Jahresangabe spricht, dass das „Photo League Lewis Hine Memorial Committee“ schon sehr früh Abzüge mit diesem Datum kennzeichnete. Dagegen verweist Julia Dolan auf einen Brief Hines von 1921 an seinen Förderer Paul Kellogg, in dem er über eine entsprechende Bilderserie berichtete. Allerdings lichtete der Fotograf bis mindestens 1925 Arbeiter der „Pennsylvania Railroad“ ab.

Als Aufnahmeort wird gelegentlich Hastings-on-Hudson in New York genannt. Das dürfte ein Missverständnis sein: Hines bestempelte einige Abzüge mit dem Namen und der Adresse seines Fotostudios, das sich dort befand, auch starb er in Hastings-on-Hudson. Nichtsdestotrotz dürfte der Arbeiter in New York aufgenommen worden sein, da die „Pennsylvania Railroad“ ihre Züge zuerst in dieser Metropole elektrifizierte. Das geschah ab 1910, erst später kamen Philadelphia und andere Städte hinzu.

Die Sammlung des „George Eastman House“ besitzt eine Serie aus fünf Bildern, die die Szene mit veränderten Körperhaltungen zeigen. Es handelt sich also keinesfalls um einen Schnappschuss, sondern um eine inszenierte Aufnahme. Das entsprach auch dem Stand der Technik: Hine musste im Kraftwerk sein unhandliches Stativ aufbauen, auf das er eine Fachkamera montierte. Es handelte sich vermutlich um eine „Graflex“, die Glasnegative im Format 13 mal 18 Zentimeter erzeugte. Dann machte er Blitzlichtpfanne und -pulver schussbereit, die eine grelle, rauchende Magnesiumexplosion erzeugten. 

Verriet Hine die Arbeiterklasse?

Das Foto zeigt einen Wechsel in Hines Perspektive an: Vor 1919 prangerte er miese Arbeitsbedingungen im Allgemeinen und die Ausbeutung von Kindern im Besonderen an. Später dagegen heroisierte er die Werktätigen ausschließlich.

Vielleicht trieben Hine taktische Gründe an: Er hatte auf soziale Dokumentarfotografie gesetzt. Doch lösten sich seine Kunden, die Wohlfahrtsunternehmen, in den 1920er Jahren auf.

Tatsächlich war manche soziale Fürsorge überflüssig geworden: Reformprogramme hatten die Lage der Arbeiter verbessert, die Wirtschaft florierte und die Arbeitslosigkeit lag unter sieben Prozent. Dagegen stiegen die Einkommen um zirka ein Drittel. Das „Center for the History & Ethics of Public Health“ berichtet zudem, dass Arbeiter in Häusern mit Zimmern für jedes Familienmitglied wohnten. Dort verfügten sie über Elektrizität, Zentralheizung, fließendes Wasser und Toiletten.

Hine begleitete diese Zeit, indem er den Fortschritt und die technisierte Arbeitswelt feierte. Den scheinbaren Widerspruch zwischen kritischen und begeisterten Aufnahmen fasste er selbst so zusammen:„Ich wollte zeigen, was geändert werden sollte. Und ich wollte zeigen, was begrüßenswert ist.“ 

Betrügerische Bilder

In den 1980ern und 1990ern tauchten verdächtig viele „Vintage Prints“ auf, von denen manche sogar signiert waren – eine Seltenheit. Hine hatte nämlich etwa vom Kraftwerkarbeiter nur sechs Erstabzüge angefertigt. Misstrauisch geworden, ging die „Association of International Photography Art Dealers“ der Sache nach. Sie konnten nachweisen, dass das verwendete Fotopapier von Agfa erst ab 1950 hergestellt wurde. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten schon Abzüge für 5.000 bis 15.000 US-Dollar den Besitzer gewechselt (Quelle: theatlantic.com). Hines hat sich vermutlich im Grab umgedreht.