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Traumhaftes Bokeh erzeugen

Boah ey, Bokeh

Das japanische Wort „Boke“ bedeutet Verwirrtheit oder unscharfe Stelle – je nach Schreibweise und Zusammenhang. Doch was macht ein schönes fotografisches „Bokeh“ aus? Der Artikel bringt Klarheit in den verschwommenen Begriff.

Wer will, dass bei Porträt- oder Produktaufnahmen nichts vom Hauptmotiv ablenkt, sorgt für einen unscharfen Hintergrund. Doch einem anspruchsvollen Künstler genügt es keineswegs, dass Bildregionen matschig erscheinen. Auch dieser Pixelbrei will geformt werden, bevorzugt nach ästhetischen Maßstäben. Die liegen zwar letztlich im Auge des Betrachters, aber dahinter sitzt trotzdem ein Gehirn als Wahrnehmungsapparat. Dieses erfasst zuerst einmal, wie das Bokeh überhaupt beschaffen ist, um es anschließend zu bewerten. Bei Spitzlichtern wie im Foto oben achten Experten daher darauf:

  • Sind sie rund, elliptisch oder eckig?
  • Besitzen sie einen scharfen oder weichen Rand?
  • Bilden die Konturen einen hellen Ring oder sind sie unauffällig? 
  • Wirken sie „kreisend“ oder gleichmäßig?
  • Bei einer gleichmäßigen Unschärfe gilt:
  • Sind Kanten weich oder akzentuiert?
  • Gibt es Abrisse in den Helligkeits- oder Farbverläufen?
  • Erkennt man also insgesamt eine harmonische Unschärfe?

Wie verschiedene Betrachter die Resultate beurteilen, unterliegt höchst geschmäcklerischen Kriterien. Auch ein Abbildungsfehler, der als „irgendwie auffälliges Licht“ auftaucht, könnte seine Liebhaber finden. Nur zwei Dinge sind gewiss: Was scharf sein soll, muss auch punktgenau abgebildet werden. Außerdem wird ein lila oder roter Farbsaum, also eine chromatische Aberration, wohl immer als unschön bewertet. Dementsprechend bestätigte beispielsweise der Hersteller Sigma, dass sie beim Objektivdesign immer anstreben, Blendenflecke, „Ghosting“ und Reflexionen zu vermindern.

Blendenform
Die Blendenform ist wichtig, darf aber nicht überbewertet werden. Auf Fotos verändert sie sich je nach Blendenwert oder dem Abstand und der Größe der Lichtpunkte.
Primotar
Das Seifenblasen-Bokeh der Primotare hat trotz der unruhigen Wirkung seine Fans. Bild: Artur Malinowski@flickr.com

Wie Optiker ein Bokeh basteln

Welche Form hat das Wasser? Diejenige, die man ihm – je nach Gefäß – gibt. Ebenso ist es mit dem Bokeh. Der Behälter ist in diesem Fall die Linsenkonstruktion. Daher muss man die Frage, wie ein schönes Bokeh zustande kommt, zuerst an die Objektivdesigner richten. Sie bestimmen maßgeblich seine Gestaltung, obgleich man selbst bei der Aufnahme noch einige Einflussmöglichkeiten besitzt, wie nachfolgend gezeigt wird. 

Ein Hersteller will beispielsweise bei einem neuen, lichtstarken Objektiv ein angenehmes Bokeh bereitstellen. Denn sein Design basiert auf einer großen Blendenöffnung, die einen besonders ausgeprägten Unschärfebereich nach sich zieht. Diesen lieben wiederum Porträtfotografen, die ein Gesicht vor einem weich ausgeblendeten Hintergrund hervorheben wollen. Dagegen hat ein Hersteller bei einem Weitwinkelobjektiv weniger Kontrolle über ein weiches Bokeh, da es bauartbedingt durchgehend scharfe Aufnahmen erzeugt. 

Wer eine Linsenkonstruktion designt, muss immer einige Faktoren abwägen:

  1. Blende: Auch mit wenigen Lamellen ließe sich die meist gewünschte runde Form erzeugen. Doch der Vorteil vieler Lamellen ist, dass sie über fast alle Blendenwerte hinweg gleich bleibt.
  2. Zerstreuungskreis: Auf der Fokusebene sollte er möglichst klein sein (siehe Grafik unten). Um dies zu erreichen, müssen Probleme berücksichtigt werden wie sphärische Aberration (Lichtstrahlen laufen nicht in einem Punkt zusammen), Koma (schräg einfallende Lichtstrahlen bilden einen Schweif), Astigmatismus (Strahlenbündel außerhalb der optischen Achse kommen unscharf aufs Foto), Bildfeldwölbung (verwandt mit dem Astigmatismus) oder chromatische Aberrationen (Licht unterschiedlicher Wellenlänge wird nicht in einem Punkt abgebildet). Daraus folgern weitere Überlegungen:
  3. Strahlengang: Er lässt sich unter anderem in Randstrahlen und die Mittelstrahlen auf der optischen Achse unterteilen. Je nachdem, wie sie auf der Film- oder Sensorebene auftreffen, lässt sich auch der Unschärfebereich ändern.
  4. Fokusebene: Unterteilt man ein Porträt in Schichten, sollen etwa die Augen auf der Fokusebene liegen und scharf sein, die Ohren aber bereits ausgeblendet. Der Konstrukteur kann etwa mithilfe asphärischer Linsen entscheiden, wie rasch und damit hart dieser Übergang erfolgt. Wie die Objektivhersteller dies technisch umsetzen, halten sie geheim.

Zentral bei der Konstruktion ist die Balance von Mikrokontrast und allgemeinem Kontrast. Aufs Bildergebnis bezogen heißt das, dass etwa feine Texturen auch punktgenau wiedergegeben werden, während Flächen eher weich herauskommen. Beispielsweise achtet Sigma bei typischen Porträtobjektiven darauf, dass sie deutliche Mikrokontraste bei weich auslaufenden Spitzlichtern aufweisen. Auf Nachfrage bestätigte der Hersteller, dass besonders auf die Mikrokontraste geachtet werde, was letztlich dem im Vergleich zum Film höheren Auflösungsvermögen heutiger Sensoren geschuldet sei.

Damit nicht genug, spielt auch die Kamera eine Rolle. Genauer gesagt geht es um die Sensorabmessungen und die davon abhängige Größe der Sensorpixel. Als Grundregel gab Sigma an, dass der Zerstreuungskreis zirka die doppelte Größe eines Sensorpixel haben sollte. Ein Erfahrungswert lautet: Auch mit einem Micro-Four-Thirds-Sensor entsteht ein schönes Bokeh, wenn er nicht mit lichtempfindlichen Dioden überladen ist. Dann ist aber ein sehr lichtstarkes Objektiv mit etwa f1,0 nötig.

Zerstreuungskreis
Eine große Blendenöffnung (schwarz) erzeugt einen stumpfen Lichtkegel (gelbe Strahlen) auf der Film- beziehungsweise Sensorebene (blau), eine kleine Blendenöffnung einen spitzen Lichtkegel. Dieser kleine Kegelstumpf bildet wiederum den Zerstreuungskreis (rot).

Objektivauswahl sinnvoll eingeengt

Wenn es um die Auswahl des richtigen Objektivs geht, wird es schwierig. Produziert ein Rodenstock Imagon wirklich ein außergewöhnliches Bokeh, das „perlartig schimmert“, oder ist es der Lichtregie zu verdanken? Damit nicht genug, werden einem Objektiv oft äußere Einflüsse positiv oder negativ zugeschrieben. Wenn sich etwa in glitzerndem Wasser viele Spitzlichter drängen, dann erzeugen sie immer einen unruhigen Eindruck. Wer interessante Linsenkonstruktionen sucht, muss sich daher an allgemeine Richtlinien halten.

  • Zoom-Objektive lassen sich nicht in allen Brennweitenbereichen optimieren, daher wirkt das Verhältnis von punkt- und scheibchenförmiger Abbildung in manchen Bereichen unschön. Außerdem neigen sie zu Problemen mit Streulicht.
  • Betrachtet man die Bildergebnisse langbrennweitiger Teleobjektive, ragen sie oft nicht als Bokeh-Meister heraus. Ursache ist, dass ihre Linsenkombinationen komplex und daher fehleranfällig sind.
  • Weitwinkel- oder gar Fisheye-Objektive bilden Motive bauartbedingt durchgängig scharf ab, weswegen man meist vergeblich auf ein gutes Bokeh hofft (genauer gesagt besitzen sie einen kurzen Fokushub, wodurch sie selbst eine Landschaft vom Baum im Vordergrund bis zu den fernen Bergen in einem extrem kurzen Bildraum abbilden).

 

Grand Canyon
Die Landschaftsaufnahme ist raumgreifend, wird aber niemals ein schönes Bokeh aufweisen.
Bildraum
Man kann sich den Bildraum, den ein Weitwinkelobjektiv abbildet, als sehr dünne Mattscheibe vorstellen, den eines langbrennweitigen Objektivs als dicke Mattscheibe. Ein 20-Millimeter-Objektiv etwa kann in diesem sehr schmalen Bildraum kaum Unschärfebereiche und daher auch kein „schönes“ Bokeh erzeugen.

Legendäre Konstruktionen

Petzval-Objektiv
Das berühmte Petzval-Objektiv legte Lomography neu auf. Bild: Remy Perthuisot

Dagegen ist man mit einer Festbrennweite im mittleren Bereich um 100 Millimeter meist gut aufgehoben. Wer konkrete Produktempfehlungen sucht, kommt in exotische Gefilde, die von historischen Linsenkonstruktionen oder Spezialobjektiven bevölkert sind. 

  • Besonders für Mittelformatkameras haben die erwähnten Rodenstock Imagon einen guten Namen. Die Objektive wurden von 1931 bis in die 1990er Jahre gefertigt. Ihre Besonderheit ist, dass sie keine Iris-Blende besitzen, sondern austauschbare Lochblenden mit einer zentralen Öffnung oder in Form von Siebblenden mit mehreren Löchern. Auf diese Weise erhält man ein scharfes Kernbild, das ein unscharfer Saum umgibt. Vergleichbare Konstruktionen kamen von den Herstellern Fujifilm und Sigma.
  • Einen ähnlichen Aufbau besitzt das legendäre Petzval-Objektiv, das Lomography im Dezember 2013 für Nikon- und Canon-Anschlüsse neu auf den Markt brachte. Als Lochblenden sind runde, stern- oder tropfenförmige Formen lieferbar, die als Besonderheit wie in einem Wirbel angeordnet sind. Wer selbst mit solchen Bokeh-Formern spielen will, kann sie für jede Kamera selbst basteln. Eine Anleitung ist auf www.fotohits.de unter „Themen – Praxis – Lichteffekte setzen“ zu finden.
  • Ein ebenfalls kreiselndes Bokeh erzeugen Helios-Objektive, ihr Design lehnt sich an das des Biotar von Carl Zeiss an. Die Mechanische Fabrik Krasnogorsk nahe Moskau stellte sie bis Anfang der 1990er Jahre her und nahm die Produktion 2012 wieder auf. Statt des M42-Anschlusses gibt es jetzt Versionen für Nikon-F- und Canon-EF-Bajonette, die etwa bei eBay für um 350 Euro zu haben sind.
  • Das Objektiv „Twist“ von Lensbaby erzeugt laut Anbieter ein „traumhaft verwirbeltes Bokeh“. Es ist für Canon-EF-, Nikon-F- und Sony-E-Mount-Anschlüsse erhältlich und kostet um 225 Euro.
  • Ringförmige Unschärfekreise („Seifenblasen“) erhält man von Spiegelobjektiven. Statt Glaselementen ist im Strahlengang ein Hohlspiegel untergebracht, der einige Vorteile bietet: Er ermöglicht es, bei langer Brennweite und hoher Lichtstärke besonders kompakte und leichte Objektive zu bauen. Reine Spiegelobjektive beinhalten keine Irisblende, werden also stets bei voller Blendenöffnung eingesetzt. Manche Fotografen lieben dieses blasenförmige Bokeh, anderen erscheint es zu unruhig. 
  • Blaseneffekte erzielte das historische Primotar von Meyer-Optik-Görlitz, das wiederum auf dem Tessar von Schneider-Kreuznach aufbaute. Natürlich weist es auch Schwächen wie etwa einen sichtbaren Lichtabfall am Rand auf. Neben anderen Anschlüssen gab es auch Modelle mit M42-Gewinde, die wiederum per Adapter an vielen moderne Kameras anschließbar sind.
  • Das Trioplan hat Meyer-Optik-Görlitz mittlerweile wieder neu aufgelegt. Auch dieses Design ist bekannt für seine Seifenblasenoptik. Am deutlichsten zeigt sie sich bei Spitzlichtern im Gegenlicht, die sich in einiger Entfernung vom Hauptmotiv befinden. Wer dazu noch die Offenblende vorgibt, produziert die schönsten Blasen. Preis: um 1.500 Euro.
  • Die Tester von FOTO HITS behielten die Telemakros Zeiss Milvus 2/50M und 2/100M gut in Erinnerung (siehe FOTO HITS 12/2015). Beide erzeugten ein wunderbar weiches, fast seidiges Bokeh. Das Milvus 2/50M kostet um 1.000 Euro, das 2/100M um 1.400 Euro.

Optimale Kameraeinstellungen

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Ein so traumhaftes Bokeh erfordert mehrere Faktoren. Kamera: Nikon D4S mit Vollformat-Sensor; Blende: f6,3; Brennweite 700 mm; tiefstehende Sonne um 8.24 Uhr.
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Verkürzt gesagt gilt: Verkleinert man das Aufnahmeformat, nimmt die Schärfentiefe zu, vergrößert man sie, nimmt sie ab. Streng nach optischer Theorie beeinflusst nur derAbbildungsmaßstab die Schärfentiefe. Es bleibt aber vor für den Endanwender die praktische Tatsache, dass er durch die Wahl von Aufnahmeformat und Brennweite das Bokeh beeinflussen kann.Trotz Blende f4 lässt sich also daher an einer kleinen Digitalkamera kein ausgeprägtes Bokeh erzeugen, während etwa bei der Mittelformatkamera Hasselblad im Format 6x6 der Schärfentiefebereich minimal ist.

Um das Bokeh zu formen, hat ein Fotograf folgenden Möglichkeiten, um den Zerstreuungskreis zu ändern: 

  1. eine geöffnete Blende,
  2. ein langbrennweitiges Objektiv,
  3. die Aufnahmeentfernung. Günstig sind ein nahes Hauptmotiv und weit entfernter Hintergrund. Wer es genau wissen will: Die Schärfentiefe wächst mit dem Quadrat der Aufnahmeentfernung.

Allerdings ist der Spielraum bei Kompaktkameras und Smartphones mit winzigen Sensoren enttäuschend gering. Will ein Fotograf etwa eine Hochzeitsgesellschaft ablichten, ist an den letzten beiden Faktoren nur wenig zu schrauben, da er nicht endlos zurückweichen und die Brennweite nach oben jubeln kann. Selbst wenn er einen niedrigen Blendenwert auswählt, kommt keine schöne Porträtaufnahme mit weichem Hintergrund heraus. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Der Fotograf besitzt eine Kompaktkamera mit einem Sensor, der eine Diagonale von 2/3 Zoll aufweist. Dieser schränkt den möglichen Unschärfebereich ein, weswegen Blende f2.8 ein ähnlich scharfes Ergebnis ergibt wie die hohe Blende f11 im Kleinbildformat oder gar Blende 22 im Mittelformat mit 6 mal 7 Zoll. 

Da unterhalb von f2.8 kaum mehr Luft ist, sollte man für ein schönes Bokeh mindestens auf eine Kamera mit APS-C-Sensor umsteigen. Denn bei einer Vergrößerung des Aufnahmeformats – bei gleichbleibender Blende – nimmt die Schärfentiefe ab, der unscharfe Bereich ist also leichter auszudehnen.

Die optische Ursache ist, dass etwa beim Format „6 × 7“ dasselbe Objektfeld (also das Rechteck samt Motiv) nicht nur mit einer entsprechend längeren Brennweite dargestellt wird. Bei gleicher Blendenzahl ist auch die Eintrittspupille um den Crop-Faktor größer und die einfallenden Lichtkegel sind breiter.

Ein Objektiv kann wie ein Ehepartner sein. Selbst wenn man glaubt, ihn nach Jahren zu kennen, erstaunt er mit kapriziösen Eigenheiten. So etwa offenbart etwa ein Nikkor 50 mm 1:1,2 unter bestimmten Bedingungen ein wirbelndes Bokeh. Ebenso werden die Leser auf der Suche nach dem perfekten Bokeh noch viele Jahre Überraschungen erleben.