Interview

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Unmögliches wagen

Der menschliche Körper ist begrenzt. Doch der Geist von Sylvie Blum ist es nicht. Daher bezaubert sie mit immer neuen Frauen- und Männerakten. Im Gespräch enthüllte sie, was sie inspiriert und wie es ihr zum Meisterwerk gerät.

FOTO HITS: Eine kreative Atmosphäre entspringt nicht dem Nichts. Man muss selbst professionelle Models und Mitarbeiter mitreißen können. Nicht bis zur Erschöpfung, aber ...

Sylvie Blum (lacht): ... doch, absolut! Ich bezeichne mich als Künstlerin und bin daher eigenwillig. Schließlich muss ich meine Ideen an das ganze Team weitergeben. Manche Fotografen gehen mit einem Art Director zum Shooting, der alles abgesprochen hat. Ich selbst muss bereits im Vorfeld schauen, wer kommt und ob derjenige mich überhaupt versteht. 

Es muss das richtige Team sein, mit dem ich schon länger gearbeitet habe, und Models, die ich eher als meine Musen bezeichne. Ich kenne sie und sie kennen mich und meine Eigenarten. Dann kann ich sie einerseits etwas mehr pushen, andererseits entsteht ein familiäres Arbeitsverhältnis. Dagegen muss ich bei Shoots mit täglich anderen Make-up-Artists, Kleider- und Haar-Stylisten sie erst einmal aufwärmen, damit sie wissen: Wer bin ich, was will ich? Werde ich selbst nachdrücklich, bleibe ich locker?

Die Atmosphäre mit einem Team, das ich länger aufgebaut habe, ist deutlich entspannter. Das ist immer die Voraussetzung dafür, dass das Ergebnis tiefer und bedeutungsvoller wird.

Snaggeltooth
Snaggeltooth

FOTO HITS: Immerhin geht es manchmal darum, Grenzen zu überwinden. Du brachtest auf diese Weise sogar ein Model dazu, auf einem Löwen zu reiten. Ein Foto, das wir im Portfolio zeigen, erforderte zwar nur einen kleinen Alligator. Doch auch mit ihm glückt es einem Model kaum auf Zuruf, eine solch elegante Pose einzunehmen. 

Sylvie Blum: Das gelingt keinesfalls auf Zuruf. Tatsächlich ist es eine Vertrauenssache. Das beinhaltet, sehr stark auf seine Musen einzugehen und sie auf die eigene Seite zu ziehen. 

Wie man an meinen Arbeiten sieht, gehe ich gelegentlich riskant vor. Ich liebe das Abenteuer, und dazu zählen auch diese wunderschönen Tiere. Sie posen selbstverständlich nicht wie ein Model, das in einer Haltung bis zum Sonnenuntergang verharrt. Vielmehr verhalten sie sich immer natürlich, was äußerst faszinierend ist. Aber es erschwert die Aufnahme, da ich zwei gegensätzliche Akteure vor mir habe, die ich auf einen Nenner bringen muss. 

FOTO HITS: Anders als ein Flamingo hebt ein Elefant zumindest auf Befehl den Rüssel.

Sylvie Blum: Auf Banane! Er hob ihn auf Banane! Zu den Flamingos gehört eine noch schönere Geschichte. Wir hatten zwei von ihnen, da das Wohl der Tiere absolut im Vordergrund steht. So konnte sich einer zwischendurch ausruhen. 

Ihrer Natur gemäß wollen sie weder in der Sonne stehen noch eine Pose einnehmen. Ebenso wie der Alligator sind sie ständig in Bewegung, also muss man mit ihnen spielen.

Für die Flamingo-Aufnahmen hatten wir ein sehr kräftiges Model und ein sehr schlankes. Da er wenig Platz hatte, um auf ihrem Körper zu stehen, und immer wieder abrutschte, fühlte er sich dort weniger wohl. Auf meiner großen Muse war das anders. Er klappte seine Beine ein, legte sich auf sie und schlief ein. Die Tiere zeigen, was sie fühlen, was immer höchst interessant ist. 

FOTO HITS: Es ist wahrscheinlich schwierig, sofort das passende Model zu einem Reptil zu finden.

Sylvie Blum: Das entwickelt sich mit der Zeit. Über das ganze Jahr hinweg kontaktieren mich Models über Instagram oder E-Mail. Das Schöne an Los Angeles ist, dass sie irgendwann in die Stadt kommen, etwa wegen ihrer Model-Agenturen. Dann mache ich mit ihnen ein Casting-Shoot aus und lerne sie dabei kennen. Schließlich muss ja die Chemie stimmen. Sie sollten wissen, wer ich bin, was ich mache, und meine Arbeit lieben. 

Das ist kein Schnellschuss nach dem Motto: Ich brauche eine Blonde, eine Rothaarige, und die geht jetzt zum Krokodil. Das funktioniert nicht.

FOTO HITS: Ich könnte mir dich am Set als eine mitfühlende Diktatorin vorstellen. Kommt das hin?

Sylvie Blum (lacht): Nein, auf keinen Fall. Aber wenn jemand eine Idee umsetzen will, muss er sein Team schon führen. So verstehen alle, was ich als Resultat erhalten möchte, und treibe sie dorthin. Mit den richtigen Mitarbeitern ist das weniger dramatisch, als es jetzt klingt. Wenn sie das Ergebnis sehen, macht es ihnen ja Spaß und sie finden es cool.

FOTO HITS: Das betrifft das fertige Bild. Doch dürftest du selten geradlinig von der Idee dorthin gelangen. Vermutlich speist es sich aus zahlreichen Quellen, oder anders ausgedrückt: Es braucht viel Humus, bis das Pflänzchen Inspiration gedeiht. Gab es in den letzten Monaten solche Eindrücke, die dich berührten und deinen Blickwinkel veränderten?

Sylvie Blum: Ich erlebe unterschiedliche Phasen der Kreativität. Die guten Ideen kommen immer wieder zurück, lassen mich nicht mehr los. Da ich ziemlich leidenschaftlich dabei bin, empfinde ich manchmal großes Glück, leide aber auch darunter, wenn ich es nicht gleich umsetzen kann. Es ist wie eine Wellenbewegung. Wer die Welle nicht erwischt, verpasst vielleicht die Gelegenheit, das Projekt umzusetzen: Leute zu finden, die mitmachen, das Team zu begeistern. Das kann ein Leidensprozess sein.

Das beste Beispiel war der Corona-Shutdown, bei dem gar nichts mehr ging. Ich hatte so viele Ideen, so viel blieb liegen, alle Kontakte waren aus der Stadt verschwunden. Wenn so etwas passiert, macht man danach erst einmal kleine Babyschritte, studiert, was überhaupt wieder möglich ist. Es erfordert einen ziemlichen Kraftakt, bis wieder alles in Schwung kommt.

The Pigeon
The Pigeon

FOTO HITS: Was hat dich konkret wieder auf neue Einfälle gebracht? Ein Kinofilm, eine Begegnung, ein besonderes Erlebnis?

Sylvie Blum: Die Rückkehr zum Analogen. Die digitale Fotografie ist zwar super, ich arbeite mit High-End-Kameras von Leica oder Hasselblad. Aber ich liebe das Material und kaufte daher eine alte Box-Kamera von Kodak. Einfach nur, um den Blickwinkel zu verändern. Wenn man durch ihren Sucher schaut, ist eigentlich gar nichts zu sehen. Es ist ja schon ein Drama, den Film einzulegen und ohne Doppelbelichtung weiterzutransportieren.

Zu diesen Wurzeln der Fotografie zurückzukehren, ist eine Art der Meditation. Ich betrachte Licht und Schatten, ohne daran zu denken, dass man sie auch photoshoppen könnte.

Für meine Dunkelkammer hatte ich nie Zeit. Wieder dorthin zu gehen, gibt mir große Inspiration. Es ist geradezu magisch, durch einen großformatigen Sucher zu blicken. Die Welt sieht gleich ganz anders aus.

FOTO HITS: Womit du deine Komfortzone verlässt ...

Sylvie Blum: Ja, da muss man raus! Wenn es zu bequem wird, wird es langweilig. Wer Bilder erschafft, muss immer neue Blickwinkel auftun, du kannst dich nicht dauernd wiederholen. Dafür sind diese alten Kameras klasse.

Schau mal durch den Sucher einer klassischen Hasselblad oder klappe den Lichtschachtsucher herunter und blicke in Hüfthöhe darauf. Deine Umgebung sieht plötzlich ganz anders aus und du entdeckst eine Ecke, die ganz anders und schöner aussieht, als sie tagtäglich wahrgenommen wird.

FOTO HITS: Manchmal, wenn ich durch die Stadt gehe, rahme ich mögliche Motive mit den Fingern ein ...

Sylvie Blum: ... und dann nimmst du noch eine andere Optik, dazu kommt der Kamerageruch, etwa Leder und Metall. Wusstest du, dass der Pfefferminzgeschmack eines Ilford-Films heutzutage ganz anders ist als früher? Ich mag solche Sachen. Es ist wie bei den Schleckmuscheln unserer Kindheit. Wenn man sie wieder ausprobiert, wird man in eine andere Zeit versetzt.

FOTO HITS: Das bedeutet neben den angenehmen Seiten, sich immer wieder selbst infrage zu stellen. Der Leser könnte sich denken, dass Sylvie Blum immer in Schönheit wandelt, und nur Schönes sieht.

Tatsächlich ist es gelegentlich heroisch - und das meine ich ohne jede Ironie - der Welt etwas Vollkommenes abzuringen. Um es etwas herunterzubrechen: Wie gehst du damit um, wenn sich ein anmutiges Model als Idiotin entpuppt? Sich trotzdem auf ihre sonstigen Qualitäten zu konzentrieren, ist durchaus eine Leistung.

Sylvie Blum: Zuallererst ist es wichtig, die Dinge immer positiv anzugehen, auch wenn dir der Mensch nicht liegt. Immerhin verbringt man eventuell einen ganzen Tag mit ihm. Für mich ist es schon wie ein Spiel, durch die Stadt zu gehen, und mir die Leute anzuschauen. Dabei versuche ich, in jedem seine Schönheit zu erkennen.

Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie wir sie empfinden und definieren. Hier ist jeder ein bisschen konditioniert etwa auf Waschbrettbäuche. Jenseits des Tellerrands stellt sich die Frage, was außerdem schön ist.

FOTO HITS: Auf deiner Website fällt beispielsweise das Bild "fat angel" heraus.

Sylvie Blum: Ich lebe in einem Land, in denen es aufgrund des Fast Foods die fettesten Menschen der Welt gibt. Dafür kann man psychologische Ursachen heranziehen und gesellschaftliche Merkmale daran festmachen. Weil ich mich für den nackten Körper interessiere, stellte ich mir immer vor, wie es unter der Kleidung aussieht.

FOTO HITS: Hierfür musst du als Fotografin deine ganze Persönlichkeit in die Waagschale werfen, während du sie aufnimmst.

Von Picasso gibt es folgende Anekdote: Ein Kunde wollte eine Zeichnung, die er flugs aufs Papier warf und eine horrende Summe verlangte. Der Kunde beschwerte sich, es habe doch nur fünf Minuten gedauert. Picasso antwortete, es habe aber fünfzig Jahre benötigt, um genau das zu können.

Sylvie Blum: Das sieht tatsächlich niemand. Die ganze Erfahrung, die man einbringt, das Lehrgeld, das es kostete, bis alles perfektioniert ist. Außerdem erfordert es eine lange Menschenkenntnis, mit Models umzugehen und Vertrauen zu schaffen.

Das wird umso schwerer in einem Zeitalter, in dem jeder Selfies schießt. Alle kennen die Posen, sind narzisstisch und haben eine eigene Show auf TikTok. Dies gilt es zu durchbrechen, denn ich will nicht die Charaktere, die sie selbst inszenieren, sondern sie in meine Welt holen.

Diese Körpersprache von Models, die mit zahllosen Followern bei Instagram hereinkommen, sehe ich sofort. Soll ich dann voller Verzückung "super" sagen, obwohl ich etwas ganz anderes will? Ich will etwas Neues herausholen, schauen, was noch in ihnen steckt.

FOTO HITS: Die außergewöhnlichen Posen sind neben den intensiven Schatten gewissermaßen ein Markenzeichen von dir.

Sylvie Blum: Ich stand ja selbst lange als Model vor der Kamera, auch wenn es Jahre zurückliegt. Daher weiß ich, wann ich es pushen darf, wann es müde ist, wann es in Standardposen verfällt. Das muss man durchbrechen. Daher kommuniziere ich die ganze Zeit mit dem Model, wenn ich nicht gerade mit der Blende oder Beleuchtung beschäftigt bin.

Früher zeigte ich Polaroids, heute lasse ich es auf das Display gucken. So sieht jemand, wo seine Stärken liegen oder wo ein Bein nicht richtig steht. Es wirkt auf ein Model seltsam, wenn der Fotograf alles toll findet. Ich fand es damals sehr hilfreich, wenn er mich im Gespräch unterstützte, eine Pose zu finden.

The Amazon
The Amazon

FOTO HITS: An den Tieraufnahmen arbeitest du schon ziemlich lange. Trotz aller überraschenden Variationen - ist das Thema demnächst für dich ausgeschöpft?

Sylvie Blum: Ich mag Tiere und es macht Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Auf einige faszinierende Wesen wie Giraffen habe ich bereits ein Auge geworfen.

Das wird allerdings eine Riesenproduktion, die ich selbst finanzieren muss. Hier in Hollywood erfordert das ein sehr großes Team: Tiertrainer, jemand von der Animal Control (Tierkontrollbehörde), die Gewerkschaft, Versicherung. Dazu kommt die Erlaubnis für Außenaufnahmen - es ist ein Riesenaufwand.

FOTO HITS: Am Anfang deiner Karriere sprachst du einfach gutaussehende junge Herren am Strand von Miami an.

Sylvie Blum: Das waren noch Zeiten! Als ich mit dem Tierprojekt begann, reiste ich extra nach Südafrika, um die Big Five in freiere Wildbahn kennenzulernen. Ich hatte außerdem Models in Windhuk gecastet, um vor Ort meine Bilder zu bekommen. Es war eine Erfahrungsreise, aber dort aufzunehmen, erwies sich als aussichtslos.

FOTO HITS: In Baden bei Wien sah ich das Projekt von Nick Brandt, das er in kenianischen Aufzuchtstationen umsetzte. Zusammen mit allen Kulissen war es unglaublich aufwendig. Aber er hatte ein Bild vor Augen, und das musste er realisieren.

Sylvie Blum: Das muss sein! Die guten Ideen gehen nicht einfach weg. Das ist ja das Tolle: Ich kann mich darauf verlassen, dass sie in meinem Kopf wachsen.

Das Gefühl wird irgendwann so stark, dass ich schier nicht mehr weiterleben kann, ohne dieses Bild gemacht zu haben. Dann setzte ich alles in Bewegung und wage auch das Unmögliche.

Sylvie Blum

Sylvie Blum erschafft aus Körpern schimmernde Skulpturen. Außerdem ist sie für ebenso elegante wie lebendige Modeaufnahmen bekannt. Im Jahr 2012 erschien ihr Bildband „Naked Beauty“ im Verlag teNeues, der FOTO HITS und andere Magazine begeisterte.

Sylvie Blum wird im deutschsprachigen Raum vertreten durch die Galerien Preissfinearts.com (Wien) und Immagis.de (München). Für Europa ist auch Thephotogallery.se in Schweden ansprechbar.

www.sylvie-blum.com