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Natalia Wiernik: Hirnmuster

Großblumige Tapetenmuster gehören zu den bleibenden Eindrücken, die etwa mit Omas oder Tanten verknüpft sind. Aus diesen Hintergründen tritt – wie auf Fotopapier in der Entwicklerflüssigkeit – die jeweilige Persönlichkeit hervor. Die polnische Fotografin Natalia Wiernik strickte ähnliche Gewebe, die unser Gedächtnis lenken.

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Natalia Wiernik

Die polnische Fotografin Natalia Wiernik siegte mit ihrer Bilderserie bei den renommierten „Sony World Photography Awards 2013“. Als „Student Focus Photographer of the Year“ setzte sie sich gegen 230 Fotografen aus Universitäten rund um den Globus durch. In der Endausscheidung bekamen sie und neun weitere Finalisten die Aufgabe, eine Bilderserie zum Thema „Familie“ zu gestalten. Dafür gab man ihnen gerade einmal einen Monat Zeit.

Wie jede gute Idee ist die hinter „The Pro­tagonists“ (deutsch: „Die Hauptdarsteller“) auf den ersten Blick simpel: Einige Familienmitglieder stehen vor verwirrenden Stoffbahnen. Menschen und Muster erscheinen einem Betrachter gleich stark gewichtet, was die passende Kleidung noch unterstützt. Damit verstößt Wiernik gegen eine Grundregel für Porträts, nach der ein Hintergrund unaufdringlich sein sollte.

Die Textur folgt einer Überlegung: Die klassische Kombination „Papa-Mama-Kind“ mit lebenslanger Haltbarkeitsgarantie gibt es für Wiernik nicht mehr. Ähnlich wie die Stofflabyrinthe ist etwa die heutige „Patchwork-Familie“ an den Rändern ausgefranst und erweiterbar. Sie selbst sagte in ihrer Erläuterung für die Jury: „Die Vorstellung von einer Familie entzieht sich einer einzigen, einfachen Definition. Immer häufiger entwickeln sich Beziehungen nicht auf der Grundlage von Blutsbanden, sondern auf der von Gemeinsamkeiten.“

FOTO HITS sprach mit Natalia Wiernik darüber, wie sie diese nüchterne Erkenntnis in emotional ansprechende Fotos übertrug.

FOTO HITS: Die Hintergründe erinnern an Omas Blumentapete. Wollten Sie solche Assoziationen?

Natalia Wiernik: Der Hinweis auf Großmutters Stube passt wirklich. Ich wollte ein Bild heraufbeschwören, das an etwas erinnert, das wir in der Vergangenheit gesehen haben. Die hier abgebildeten Werke zeigen meine Sichtweise, wie die Wahrnehmung im Allgemeinen zu interpretieren ist. Sie handeln davon, auf welche Art und Weise wir uns erinnern, wie wir Bilder in unserer Vorstellung entwickeln. Die Vergangenheit unterliegt beispielsweise oft Prozessen, die zur Mythenbildung oder sogar zu ihrer Glorifizierung führen – eine unglaublich subjektive Angelegenheit. Gleichwohl besitzen manche bildhaften Erinnerungen, mit denen man versucht wieder einen Zeittunnel zu öffnen, archetypische Züge.

FOTO HITS: Denken Sie, dass dies jeder anhand ihrer Bilder erkennt?

Natalia Wiernik: Ich bin mir niemals sicher, wie die Betrachter meine Fotografien aufnehmen, interpretieren und beurteilen. Ich denke, das gehört zu den interessantesten Aspekten meiner Arbeit.

Nachdem ich den „Student Focus“ gewonnen habe, traf ich auf völlig unterschiedliche Reaktionen. „The Protagonists“ wurde vielfach kommentiert, und darunter waren sowohl kritische als auch zustimmende Anmerkungen.

FOTO HITS: Sie sind noch recht jung. Warum interessieren Sie die Vergangenheit und Familie?

Natalia Wiernik: In den verschiedenen Abschnitten unseres Lebens erinnern wir uns an die Dinge auf unterschiedliche Weise. Beispielsweise weichen heute unsere Rückblicke auf die reale Kindheit ab und sie werden in 20 bis 30 Jahren nochmals anders sein.

Ich bin jung und kann mich noch daran erinnern, wie ich als Kind die Wirklichkeit wahrnahm. Wenn ich heute zu den Orten oder Objekten der Vergangenheit zurückkehre, sehe ich sie in einem völlig anderen  Licht, als sie mir damals erschienen. Voraussichtlich wird sich das in der Zukunft nochmals wandeln. Aber meine Werke handeln nicht nur von Rückblicken, sondern auch davon, wie wir unser Umfeld sehen und deuten. Vor allem das interessiert mich.

FOTO HITS: Wo fanden Sie die grellen Stoffe und die Gegenstände?

Natalia Wiernik: Einige der Tücher stammen aus Second-Hand-Läden, manche fand ich zuhause, andere schenkten mir Freunde. Viele Requisiten fand ich in einem Schrank meiner Universität. Er ist eine wahre Schatztruhe für seltsame und einzigartige Dinge. 

FOTO HITS: Wie stellten Sie die einzelnen Bestandteile einer Aufnahme zusammen?

Natalia Wiernik: Es gab keinen Plan, an dem ich geklebt wäre. Einige Ideen hatte ich bereits im Kopf, aber sehr oft änderte ich alles während der Aufnahmesitzung. Dabei folgte ich eher meiner Intuition und meinen Gefühlen als bestimmten Festlegungen. Schließlich musste ich mich oft schnell entscheiden, um mich auf die Situation vor Ort einzustellen. 

Ich hatte nur einen einzigen Monat, um die Bilderserie „The Protagonists“ („Die Hauptdarsteller“) anzufertigen. Das gaben die Wettbewerbsregeln des „Sony World Photography Student Focus“ vor. Der Veranstalter informierte uns über das Thema unserer Aufgabe, also „Die Familie“. Exakt einen Monat später lief unsere Abgabefrist ab, an der wir sämtliche Beiträge zugeschickt haben mussten.

Das war eine ziemlich kurze Zeit und damit eine große Herausforderung. Während jeder Session drohte so die Gefahr, dass die Aufnahmen unbefriedigend ausfielen. Erstaunlicherweise geschah dies aber recht selten. Insgesamt gestaltete ich zehn Bilder, von denen schließlich sieben für die finale Serie ausgewählt wurden.

FOTO HITS: Wie haben Sie die Bilder beleuchtet, damit sie wie auf Leinwand gemalt erscheinen?

Natalia Wiernik: Ich habe zwei verschieden Beleuchtungsmittel für die Aufnahmen eingesetzt. Bei einigen benutzte ich zwei Lampen mit Dauerlicht, andere kamen mit drei simplen Blitzgeräten zustande. Vielfach erwies sich bereits ein auf die Kamera gesteckter Blitz als hilfreich, um alle Ecken auszuleuchten. 

Aber jedes Bild ist einzigartig und daher war die exakte Anordnung unterschiedlich. Sie hing von den Farben, der Farbtemperatur und dem gewünschten Effekt ab.

FOTO HITS: Wie viel davon entstand mithilfe digitaler Bildbearbeitung?

Natalia Wiernik: Meine Bilder entstehen in mehreren Schritten. Zuerst nehme ich die von mir komponierte Umgebung auf. Aber eine bloße Abbildung der Realität reicht mir nicht aus. Daher entsteht das eigentliche Bild im Zuge der Nachbearbeitung, was einige Zeit und Arbeit kostet. Hierbei ist entscheidend, dass die Farben und Texturen zueinander passen. Es erinnert ein bisschen an einen Pinselkünstler, der ein Gemälde fertigstellt.

FOTO HITS: Warum haben Sie die gewünschte Stimmung nicht von Anfang an etwa mithilfe von farbigen Glasfiltern geschaffen?

Natalia Wiernik: Das mag eine gute Idee für zukünftige Projekte sein. In gegenwärtigen Projekten sah ich dafür keine Notwendigkeit. Nebenbei ist Farbtemperatur nicht alles – es bildet nur eines der Bestandteile, die das Gesamtbild ausmachen.

Wenn ich Fotos bearbeite, verändere ich ohnehin nur Einzelheiten. Einige entsprechen sogar exakt dem realen Motiv.

FOTO HITS: Ihre Bilder sollen etwas Malerisches besitzen und zudem werden einige digital nachbearbeitet. Wäre es nicht besser, gleich die künstlerische Freiheit zu benutzen, die die Malerei gibt? 

Natalia Wiernik: Nein, weil ich mich momentan vorrangig für die Fotografie interessiere. Nämlich Bildeindrücke zu sammeln und im wahrsten Sinn des Worts abzulichten. Meine Stärken liegen darin, eine Szene zu gestalten und dann die Nachbearbeitung durchzuführen.

Allerdings – wer weiß, was ich demnächst mache, vielleicht kehre ich tatsächlich zur Malerei zurück. Aber ich bin sicher, dass ich niemals fotorealistische Gemälde herstellen will. Mich reizen Fotografien, die an Gemälde erinnern.

Natalia Wiernik siegte bei den renommierten „Sony World Photography Awards 2013“ in der Katgegorie „Student Focus“. Sie studierte Grafik an der Akademie der Bildenden Künste Krakau. Im Jahr 2011 arbeitete sie an ihrem Abschluss, für den sie 2012 die Bilderserie „Thanksgiving“ schuf. Diese ist ebenso wie das hier gezeigte Werk „The Protagonists“ auf der Website wiernik.blogspot.de zu sehen. Aktuelle Informationen gibt Wiernik unter www.facebook.com/wierniknatalia(englisch/polnisch).