Kolumne

Foto und Form

Foto und Form

Jede Kamera hat ihre Grenzen – der fotografische Einfallsreichtum aber nicht. Wer ihn ausschöpft, gestaltet sogar mit einem einfachen Kompaktmodell großartige Fotos. 

Der Buchautor Dr. Michael Lobisch-Delija vermittelt in einer neuen Serie, welche Gestaltungsregeln dabei zum Erfolg beitragen. Der erste Teil stellt zwei Klassiker vor, die harmonische Ergebnisse garantieren: der Goldene Schnitt und die Drittelregel. Das Buch zur Serie geht mittlerweile in die 2. Auflage.

Folge 1: Drittelregel und Goldener Schnitt

Der Renaissance-Maler Giotto (1266 bis 1337) sollte ein Probestück abliefern, um vom Papst einen Auftrag zu erhalten. Er zeichnete freihändig einen perfekten Kreis und wurde angestellt. Diese Anekdote soll zeigen, dass auch große Kunst mit solidem Handwerk beginnt.

Dr. Michael Lobisch-Delija (Website: www.lobisch-delija.eu) zeigt in „Foto und Form“ auf, wie man mit bewährten Regeln bessere Fotos gestaltet. „Besser“ heißt, dass ein Motiv den Betrachter ebenso bewegt wie den Fotografen, als er es aufnahm. 

Flüchtige Gefühle benötigen eine Form, damit sie mitteilbar sind: Ein Gedicht etwa verwendet die Grammatik und ein Foto die Kompositionsregeln. Die „Göttliche Proportion“ – wie der Goldene Schnitt auch genannt wird – gehört zu den ältesten unter ihnen. Sie wurde erstmals auf der Tafel von Salamis erwähnt und erfreute sich über die Jahrhunderte hinweg ungebrochener Beliebtheit. Zu Recht, wie die folgenden Erläuterungen zeigen. Daneben erfahren die Leser, wie sie einen weiteren Klassiker – die Drittelregel – für sich nutzbar machen. Im Folgenden erläutert Dr. Michael Lobisch-Delija ihre Anwendung:

Bevor wir zu den berühmten Regeln wie Drittelregel oder Goldener Schnitt kommen, möchte ich den Lesern mein Lieblingszitat des Künstlers Pablo Picasso ans Herz legen: „Lerne Regeln wie ein Meister, damit du sie wie ein Künstler brechen kannst.“ Damit wird eigentlich schon deutlich, dass es zwar Regeln gibt und man sie auch kennen sollte (um nicht im Ungefähren zu versanden beziehungsweise nur aus purem Zufall zu brauchbaren Aufnahmen zu kommen), diese aber nicht in Stein gemeißelt sind, sondern – gekonnt – gebrochen werden dürfen oder manchmal sogar müssen.

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Die schwarzen Balken stellen den Goldenen Schnitt dar, die grauen Balken die Drittelregel. Diese etwas dürren Vorgaben balancieren ein Motiv perfekt aus. Daher lassen sie sich auch in den Sucher mancher Kamera einblenden.

Die Grundmuster

In dieser Kolumne wollen wir uns ein wenig mit dem berühmten Goldenen Schnitt (englisch „Golden Ratio“) und der häufig gebrauchten Drittelregel (englisch „Rule of Thirds“) beschäftigen. Das Prinzip des Goldenen Schnitts ist ein aus einer in der Natur häufig vorkommenden Proportion abgeleitetes geometrisches Prinzip, das besagt, dass sich das Kleine zum Großen verhält, wie das Große zum Ganzen, also a : b = b : (a + b).

Grafisch lässt sich dieses Prinzip auf verschiedene Weise darstellen, aber uns interessiert vor allem die Ableitung als Gitterform, welche uns die Bildgestaltung in der Fläche erleichtern soll. In der Grafik links ist eine Aufteilung sowohl nach dem Goldenen Schnitt (schwarze Balken) als auch nach der Drittelregel (graue Balken) abgebildet.

Das Bild unten könnte eventuell ein Beispiel für die Anwendung des Goldenen Schnitts sein. Aber erst einmal darf man sich das Foto unvoreingenommen anschauen und versuchen, die Aufteilung der Fläche und ihre Proportionen „freihändig“ zu analysieren.

Geschnitten oder am Stück?

Zunächst fällt als Gestaltungselement neben den durch die Fluchtpunktgeometrie von Feld- und Straßenrändern gebildeten Dreiecksformen eine perspektivische Reihung (Tiefenstaffelung der Baumreihe) auf, welche der Szenerie eine zusätzliche Dynamik verleiht. Um festzustellen, warum die­se Aufnahme bei aller Spannung gleichzeitig so harmonisch wirkt, ist es im kleinen Bild rechts daneben mit einem Raster überlagert, dessen Proportionen denen des Goldenen Schnitts entsprechen. Tatsächlich decken sich die Achsen der abgebildeten Bildstrukturen überraschend genau mit den Achsen, die der Goldene Schnitt verlangen würde.

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Die Dreiecksformen der Fluchtlinien und die Staffelung etwa der Bäume gliedern das Foto. Trotz der vielen Elemente wirkt es harmonisch.
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Das im Bild darübergelegte Raster verdeutlicht, wie das Motiv aufgebaut ist.

Sauber dreigeteilt

Lassen Sie uns das Experiment mit einem weiteren Foto dieser Landschaft wiederholen. Im Bild unten geht es etwas ruhiger zu als im ersten Beispiel, denn bedingt durch die andere Perspektive ist hier die Geometrie etwas weniger dynamisch, ohne dass es langweilig wird.

Wenn wir hier das Raster mit dem Goldenen Schnitt darüberlegen würden, würde es nicht genau treffen. Wir könnten aber die beliebte Drittelregel anwenden, von der behauptet wird, dass sie die Bildspannung günstiger beeinflusst als der Goldene Schnitt, dem vor allem die Stärkung der Harmonie nachgesagt wird.

Es muss also durchaus nicht immer der Goldene Schnitt sein – manchmal führt auch die Drittelregel zu gleich guten Ergebnissen, ohne dadurch unharmonisch zu wirken. Der Vorteil der Drittelregel ist außerdem, dass man die entsprechenden Proportionen ohne Schablone sehr viel leichter abschätzen kann.

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Auch dieses schlichte Motiv gewinnt an Dynamik, indem eine feste Aufteilung eingesetzt wird.
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Wie das Raster zeigt, kam dieses Mal nicht der Goldene Schnitt zum Einsatz, sondern die Drittelregel. Sie ist insbesondere bei Landschaftsaufnahmen sehr beliebt.

Gezielter Regelverstoß

Im nächsten Beispiel (Bild oben) möchte ich eine Landschaft zeigen, deren Proportionen zwanglos dem Goldenen Schnitt zu entsprechen scheinen. Bei näherer Betrachtung betrifft das allerdings nur den Zwischenhorizont vor der Bergkette im Hintergrund. In der Vertikalen liegt die sich spiegelnde Baumachse im linken Bildteil neben der Vertikalen, die dem Goldenen Schnitt entsprechen würde.

Man kann aber durch entsprechenden Beschnitt auf der linken Seite auch hier den Goldenen Schnitt in einer Vertikalen erzwingen, wie die Projektion daneben zeigt. Das Endergebnis mag jetzt formal perfekt sein im Sinne einer „Superharmonie“, man muss aber gleichzeitig feststellen, dass der Landschaft reizvolle Strukturen auf der linken Seite fehlen und natürlich auch etwas von der Weite verloren gegangen ist.

Was bedeutet das für unsere fotografische Praxis? Ganz einfach: Goldener Schnitt und Drittelregel sind gestalterische Möglichkeiten, die wirksam sein können, aber nicht müssen! Viele starke Fotos wirken sogar oder vor allem dadurch, dass bekannte Regeln (gekonnt) gebrochen werden. Womit wir wieder beim eingangs erwähnten Zitat von Pablo Picasso wären: „Lerne Regeln wie ein Meister, damit du sie wie ein Künstler brechen kannst.“

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Die Komposition oben entspricht nicht exakt dem Goldenen Schnitt. Doch wer sich sklavisch und millimetergenau an ihn hält, nimmt manchmal der Bildwirkung mehr weg, als er ihr schenkt.
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Daher erhielt die linke Bildseite entgegen der Regel etwas mehr Luft.

Eine teure Ausrüstung erweitert die fotografischen Möglichkeiten. Entscheidender für die Bildqualität ist aber, wie man nutzt, was verfügbar ist – egal ob Kompakt- oder Spiegelreflexkamera. Das Buch vermittelt hierfür wichtige formale Grundsätze, etwa wie man Flächen, Linien und Perspektiven gekonnt einsetzt. Zahlreiche Fotos veranschaulichen, wie sie wirken. Anhand der Beispiele lernt man, mit Formen und Farben beeindruckende Wirkungen zu erzielen. Der Leitfaden wurde für den „Deutschen Fotobuchpreis 2015“ nominiert.

Michael Lobisch-Delija: Wie wirkt mein Bild? mitp 2014, 2. Auflage 2016, Softcover, 196 Seiten, ISBN 978 3 8266 9694 7, Preis: 19,99 Euro

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