Erstellt von FOTO HITS-Redaktion
| Kategorien:  Literatur  

Neue Form der Fotoreportage

Der Riss: Innen- und Außenansichten Europas

Die EU-Verordnung zur Gurkenkrümmung mag eine der Absurditäten der Gemeinschaft belegen. Doch bedeutet dies nichts im Vergleich zu über 70 Jahren Frieden und einem weltweit herausragenden Wohlstand. Dieser Traum, den der englische Politiker Winston Churchill einst formulierte, steht am Anfang der Bildreportage „Der Riss“. Der Dokumentarfotograf Carlos Spottorno und der Reporter Guillermo Abril gestalteten sie in Form einer „Graphic Novel“, die eine neue Art journalistischen Erzählens ermöglicht. Diese Mischform vermittelt erstaunlich vielfältige Blickwinkel - und dies besser als mancher reine Film- oder Textbeitrag. Sie schafft es, Spannung, einen angenehmen Leserhythmus und eine hohe Informationsdichte miteinander zu verbinden.

Das Buch basiert auf Fotos und Beobachtungen, die die beiden Autoren an den Grenzen Europas sammelten. Diese Augenzeugenberichte sind um so wichtiger, als sich von dieser „Terra incognita“ geradezu mittelalterliche Vorstellungen breitgemacht haben: An der Ostgrenze drohen die Tataren, während im Süden die langobardische Völkerwanderung stattfindet. Ein ungarischer Bürgermeister mit kleinem Herz und Hirn sagt in „Der Riss“ etwa über die Kriegsflüchtlinge: „Ihre Träume zerstören unsere Träume“. Das Buch ermöglicht glücklicherweise einen weitaus offeneren Blick.

Dieses trotzige „Wir oder sie“ ersetzen die beiden Journalisten durch ein größeres Gesamtbild, in dem sie niemals einseitig Partie ergreifen. Im äußersten Süden Europas besuchten sie die Grenzstadt Melilla, wo ein Oberst der Guardia Civil ebenso zu Wort kommt wie ein Kameruner, dem beim Sprung über den Grenzzaun ein Bein abgetrennt wurde. Der Leser erhält exklusive Einblicke in die Mission „Mare Nostrum“ und das Bordleben italienischer Seeleute, die sie durchführen. Im äußersten Norden begleiten sie eine finnische Grenzpatrouille, die die Grenze zu Russland bewacht. Dabei tragen selbst absurde Details wie eine Pipeline, über die Schmuggler ihren Wodka von Russland nach Estland pumpen, etwas zum Puzzle bei, das die Verwerfungen in Europa anschaulich macht.

Die Risse, die die Autoren in ihren Reportagen ausmachen, bleiben auch am Ende der Lektüre beunruhigend. Doch sieht man klarer, wie der „Arabische Frühling“, „Euromaidan“ und die Annexion der Krim zusammenhängen und welche Herausforderungen sie bilden. Es kann keine Antwort darauf sein, immer höhere Mauern zu bauen. Stattdessen gibt das Buch „Der Riss“ Einsichten, die über die Mauern blicken lassen.


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